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Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)

Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)

Titel: Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
Autoren: Anne Sinclair
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täglichen telefonischen Wetterberichten von der Front durchgaben. Sie warteten auf die Tataren, die nie kamen, sondern diese so vorhersehbare Verteidigungslinie einfach umgingen.
    In dieser Zeit hat sich mein Vater so viele pseudowissenschaftliche Kenntnisse über Gewitterwolken angeeignet, dass er uns bei jedem drohenden Regenguss mit Erklärungen traktierte, die des Petit Larousse würdig waren. Wahrscheinlicher ist, dass er damals – wie in dem später mit Fernandel verfilmten Comic
Adamaï aviateur –
beim Ziehen seines Turms oder Springers einfach nur die Hand ausstreckte und seinem Kollegen mitteilte: »Es regnet«, worauf der antwortete: »Hier auch.«
    Fest steht, dass er, demobilisiert wie alle französischen Soldaten, die nicht in Gefangenschaft gerieten, und nach Paris zurückgekehrt, beim Anblick der Hakenkreuzfahnen auf den Champs-Élysées wie viele andere in Tränen ausbrach. Er musste an den 11. November 1918 denken, als er dort als Neunjähriger mit seiner Mutter den siegreichen Truppen von Marschall Foch zujubelte.
    Da beschloss er, sich zu engagieren.
    Da er nichts von den geheimen Verbindungen nach England wusste, erreichte er auf verschlungenen Wegen die Vereinigten Staaten, wo er sich den Streitkräften des Freien Frankreich anschloss, die ihn in den Nahen Osten schickten, nach Damaskus, Beirut und Kairo.
    Bevor er das Schiff bestieg, das ihn ohne Beleuchtung, um dem Feind zu entwischen, durch den Atlantik und den Indischen Ozean dorthin brachte, erklärte man ihm, dass die Deutschen die Familiennamen aller französischen Offiziere kannten, die für de Gaulle kämpften und deren Familien in Frankreich geblieben waren. Um die Seinen zu schützen, musste er seinen Namen ändern. Da er dieselben Initialen behalten wollte, schlug er das New Yorker Telefonbuch beim Buchstaben S auf und stieß auf den typisch irischen Namen Sinclair, der in den USA so verbreitet ist wie bei uns Martin oder Dupont.
    Ich war ihm immer ein bisschen böse, dass er den Namen nach dem Krieg behielt und später legalisieren ließ, damit verloren wir doch einen Teil unserer Identität. Aber unter diesem Kampfnamen war er bekannt geworden, er trug ihn stolz und wollte wohl auch seinen Nachkommen – seiner Tochter Anne zum Beispiel – die Gefahren ersparen, die ein jüdischer Name über seine Familie gebracht hatte.
    Viele Kriegstraumatisierte haben nach der Befreiung ähnlich gehandelt, aber ich muss gestehen, dass ich diesen Namenswechsel immer als eine Art Verleugnung empfunden habe. Wahrscheinlich habe ich mich schon deshalb sehr früh zu meiner Identität als Jüdin bekannt. Deshalb auch haben mich die Leute erbittert, die dem Front National durch eine Änderung des Verhältniswahlrechts zur politischen Existenz verhalfen. Deshalb auch habe ich verbissen dagegen gekämpft, dass die Medien in den Achtzigerjahren dem FN großzügig Raum gaben, und mich dreizehn Jahre lang geweigert, Jean-Marie Le Pen in meiner Sendung
Sept sur sept
zu empfangen. Ein sinnloser und verlorener Kampf, wie sich am 21. April 2002 und in den folgenden Jahren gezeigt hat.
    In meiner Jugend war ich also empfänglicher für die Geschichte meiner Großeltern väterlicherseits als für das Los derer, die sich, von den Nazis gesucht, zur Flucht entschlossen hatten und enteignet, ausgeplündert und ihrer Nationalität beraubt worden waren. Zudem wollte ich mir mein eigenes Leben aufbauen, ich zog das Fernsehen den Galerien vor, das öffentliche Leben war mir wichtiger als die Kunst, alte Zeitungen lieber als alte Gemälde.
    Vor fünf Jahren starb dann meine Mutter. Und wie immer beim Tod eines Elternteils kehrte als Gewissenbiss all das zurück, was man zu fragen unterlassen hat oder nicht wissen wollte, ob aus Trägheit oder Überdruss, wieder und wieder dieselben Geschichten zu hören. Ich leerte die Schränke, die voller verstaubter Erinnerungen waren, fand alte Schlüsselbunde, abgetragene, altmodische Stolen, Familienfotos, seit Jahrzehnten angesammelte Stapel von Papier.
    Dann wurde ich sechzig und lebte bis vor Kurzem in den USA, einem Land, das mich ständig an meine Kindheit und den Teil der Familie erinnerte, der dort Zuflucht gefunden hatte. Und nun riefen mir die französischen Behörden, indem sie mit gefährlichen Begriffen spielten, ins Gedächtnis, dass die französische Nationalität nicht selbstverständlich ist, auch wenn man sie immer gehabt hat. Dass sie sogar für die, die sie haben, unsicher ist, und schwer zu erlangen für all
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