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Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
Autoren: Dieter Moor
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verknüpfe. So könne man sich, wurde behauptet, zum Beispiel die Namen aller Minister der aktuellen Regierung für immer merken, wenn man jeden Minister im eigenen Kopf mit einem schönen Erlebnis oder seiner Lieblingsspeise verknüpfen würde. Nicht des Ministers, sondern von einem selbst. Das Ganze könne man dann im Unterbewusstsein – das ist das Ding, das uns die seltsamsten nächtlichen Träume liefert –, also im Unterbewusstsein könne man diese Verknüpfung dann verankern. Dauerhaft. Man müsse nur den Namen des, sagen wir: Verteidigungsministers laut aussprechen – und dabei an eine, sagen wir: schöne, gutgeschmorte Hammelkeule denken. Und weil die Keule positiv besetzt sei, liefere das Hirn, wenn man künftig an den deutschen Verteidigungsminister denke, automatisch den Duft von Hammelfleisch, Rosmarin und Knoblauch – und, gratis dazu, eben auch den Namen des Ministers.
    Der Nachteil dieser Methode ist natürlich, dass man seinen Lebtag nie wieder eine Hammelkeule genießen kann, ohne an den deutschen Verteidigungsminister denken zu müssen. Der womöglich längst nicht mehr in Amt und Würden steht und nach Amerika ausgewandert ist. Während man den aktuellen Minister natürlich ebenfalls bereits verknüpft hat, mit, sagen wir: dem schönen Hobby Lenkdrachenfliegen. Dem man dann auch nicht mehr frönen kann, ohne unweigerlich an diesen Herrn denken zu müssen. Und weil man diesen Merke-den-Namen-Trick mit der Zeit auf sämtliche Minister des Bundes und womöglich aller Länder angewendet hat und das auch noch über viele Legislaturperioden hinweg, kann man am Ende zwar in jedem Polit-Smalltalk mächtig punkten, aber nichts mehr genießen, was Spaß macht oder schmeckt, ohne dass einem ein Politiker im Kopf herumgeistert. Wer
will
das?
    Darum habe ich die Methode tunlichst nicht angewandt – und erfreue mich bis heute eines miserablen Namensgedächtnisses, verknüpft mit einem genussvollen Dasein.
    Aber jetzt, in der Not, im existenziellen Verdrängungszwang, jetzt erinnerte ich mich wieder an diesen Trick, und er wurde zum Hoffnungsschimmer, zum Strohhalm im Tunnel, zum Lichtschimmer auf stürmischer See. Wenn es möglich wäre, den Verknüpfungsmechanismus sozusagen umzupolen. Statt verknüpfter Erinnerung verknüpfte Verdrängung!
    Als ersten Schritt in diesem Selbstmanipulationsexperiment machte ich mich daran, eine Liste meiner potenziell verknüpfbaren Verdrängungen zu erstellen. Und scheiterte sofort, weil: Echte Verdrängungen sind ja verdrängt, daher nicht verfügbar, nicht abrufbereit. Ich erkannte verzweifelt: Bevor ich meine Verdrängungen im Unterbewusstsein verknüpfen kann, muss ich herausfinden,
was
mein Unterbewusstsein denn da bisher überhaupt verdrängt hat. Das war nur möglich mit professioneller Hilfe: Ich brauchte einen Psychoanalytiker, einen mit Seelen-Tiefseetaucher-Patent, der den Mut und die Fähigkeit aufbrächte, bis in die unendlichen Abgründe meines kleinen Schweizers hinunterzuschnorcheln. Aber selbst wenn ich einen solchen Jacques Cousteau der Psychoanalyse fände, der Trip in die rätselhaften Tiefen meiner radikalen Synapsen würde wahrscheinlich Monate dauern, viel zu lange. Und wenn ich diesem Seelenerforscher eröffnen würde, ich müsse meine Verdrängungen finden, damit ich die kaputte Kupplungsscheibe eines alten Traktors mit Namen Hürlimann verdrängen könne samt einem meiner besten Freunde, ja, dann, glaube ich, würde der mich kurzerhand in die Klapse einliefern lassen.
    Was tut ein Mann am Ende seines Lateins, wenn er ansteht, keine Lösung sieht, nicht mehr weiterweiß? Er wendet sich an seine Frau. Natürlich ohne zu verraten, dass er nicht mehr weiterweiß und jetzt ganz unglaublich dringend ihre Hilfe braucht. Denn selbst ein Mann, der nicht mehr weiterweiß, der eigentlich gar nichts mehr weiß, der weiß immer noch: Nichts ist in den Augen einer Frau unattraktiver als ein Mann, der nicht mehr weiterweiß. Eine Frau braucht einen Mann, der
immer
weiterweiß, damit, wenn
sie
nicht mehr weiterweiß, wenigstens
einer
noch weiterweiß, und das ist dann gefälligst: der Mann. Wozu hat Frau ihn schließlich?
    Ich fand Sonja in ihrem Büro, wo sie in einem Meer von Unterlagen, Formularen, Listen, Faxen, Briefen, Rechnungen, Kreditoren, Debitoren, Anträgen, Anfragen, Auskünften, Absagen, Geschäftsmodellszenarien, Tierbestandslisten, Weidemanagementaufstellungen, Produkt-, Etiketten- und Graphikentwürfen sowie etlichen halb leergetrunkenen
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