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Liebe wird oft überbewertet

Liebe wird oft überbewertet

Titel: Liebe wird oft überbewertet
Autoren: Christiane Rösinger
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Spektralbrille auf!« Aber auch mit Brille sah man nur verschwommene Lichter und stieß an Plastikstäbe, die von der Decke baumelten. Fremde seltsame Welt der Schaustellerei!
    Als wir dann aber wieder so draußen im Schnee standen und die Hälse reckten, ganz nach oben schauten und uns die Schneeflocken ins Gesicht fallen ließen und zusahen, wie das Kettenkarussell »Star Flyer« auf 55  Meter hochgezogen wurde und dazu die mannigfaltigen Jauchzer und Schreie der vielen jugendlichen Scream Queens aus den anderen Fahrgeschäften hörten und einige ADS -Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund belauschten, die überlegten, ob sie zuerst Achterbahn und dann mit dem »Kotzrad« fahren wollten oder umgekehrt, da wurde uns doch ganz poetisch zumute und warm und weihnachtlich ums Herz.

Berlin, 31 . Dezember
    Das Geknalle draußen ist dieses Jahr gar nicht so schlimm wie sonst – ob das an der Krise liegt? Wo die Berliner, so klagt der Fachhandel, doch schon so an der Weihnachtsbeleuchtung gespart haben!
    Es hat wieder ziemlich geschneit, die Leute stapfen durch den Schnee, wischen ihn in festen Lagen vom Auto, in manchen Straßen liegt er knöchelhoch, die Autos schleichen ganz bescheiden über die weiße Decke – der Schnee macht schon alles ein bisschen weniger sinnlos an diesem letzten Tag des Jahres. Wie viele Jahresenden meines Lebens wurden von dieser allgemeinen Silvesterverzweiflung geprägt, von sinnlosen Versuchen der Bewältigung bis zu dem dummen Vorsatz, allem zu entsagen und mit der Katze zu Hause zu bleiben! Und dann die darauf folgenden Mitleidsangebote. Was stand in den letzten Jahren nicht alles Verlockendes zur Wahl: Mit einem befreundeten Paar zu einem Schriftstellersilvestertreffen nach Brandenburg fahren, dort zwei weitere Paare treffen (von denen sich eines allerdings in Trennung befand, wie gleich beschwichtigend ergänzt wurde).
    Oder von J. und J. zu einem anderen befreundeten Pärchen nach Schöneberg zum Raclette-Essen mitgenommen werden, wo noch ein anderes mir unbekanntes, aber angeblich sehr nettes und gar nicht so pärchenhaftes Pärchen dazukommen sollte. Eigentlich ist Silvester immer am besten, wenn man etwas zu tun hat und auf einer Bühne steht.
    Warum bildet man sich denn immer ausgerechnet an Silvester ein, das Alleinleben sei so schwierig, obwohl den Rest des Jahres über eigentlich gar nichts fehlt? Man sich mit Katze, Kind, Familie, mit jüngeren und gleichaltrigen Freunden, Band, Schnitzelgruppe, Ausgehgruppe, monatlichen Gala-Abenden und kollektiven Fernsehabenden gar nicht einsam fühlen kann?
    Weil man sich die Außenansicht zu eigen macht. Weil etwas zu fehlen scheint, obwohl definitiv nichts fehlt. Weil die ganze zwangsverpaarte Außenwelt uns suggeriert, wir wären nicht normal, sondern eine traurige Ausnahme.
    Oder vermissen wir vielleicht nur ab und an die Aufregung, die Sensation des Gefühls des Sich-Verliebens? Aber das haben die Pärchen um uns herum ja auch nicht.
    Wie sagte T. ( 23 ) letztens: Am lustigsten war’s eigentlich immer, als wir alle Singles waren.

Paarideologie – das paar als Lebensform
    Das Pärchen an sich ist eigentlich eine ganz niedrige Lebensform und steht in der Artentabelle nur knapp über dem Einzeller oder dem Pantoffeltierchen.
    Aber diese biologische Tatsache darf man nicht laut aussprechen, sonst gilt man als verbittert, neidisch und zu kurz gekommen. Denn jedes Pärchen, ist es auch noch so unglücklich, kann noch mitleidig auf die Alleinlebenden schauen, und auch wenn autonom lebende Menschen manchmal insgeheim von den wandelnden Pärchenhöllen beneidet werden, sie verstecken den Neid gut und machen ihre Ambivalenzen mit sich alleine aus.
    Während doch allgemein bekannt ist, dass Menschen in der Masse verblöden und die Masse immer nur so klug wie ihr dümmstes Mitglied ist, wird die ergebnisoffene Paarforschung in unserer pärchenzentrierten Gesellschaft behindert. Eines steht aber ohne Zweifel fest: Das Pärchentum bringt immer die schlechtesten Eigenschaften des Einzelnen nach oben und produziert deshalb am laufenden Band unglückliche Paare, die wie geprügelte Hunde nebeneinander durchs Leben schleichen. Trauerumflorte Gestalten, die man nur in wenigen Augenblicken, wenn der Partner nicht da ist, kurz und heimlich aufatmen sieht. Menschen, die wie Steine nebeneinander sitzen, die in Pizzerien verzweifelt das Besteck streicheln, um sich nicht anschauen und miteinander sprechen zu müssen. Es ist absurd: Autonome
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