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Liebe ist ein Kleid aus Feuer

Titel: Liebe ist ein Kleid aus Feuer
Autoren: Brigitte Riebe
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Bundesrepublik Deutschland waren es bestenfalls zweieinhalb Millionen Einwohner, manche Forscher sprechen sogar von unter zwei Millionen. Es waren weite, unbewohnte Gegenden, die sich nach allen Himmelsrichtungen erstreckten, viel Brachland, dazwischen reichlich Sümpfe, durchzogen von unberechenbaren Flüssen, dann wieder Heide oder Dickicht. Hie und da gab es Lichtungen, der Wildnis abgetrotzte Felder, die eher kümmerlichen Furchen glichen, bearbeitet von Ochsen, die die Holzpflüge zogen. Noch war die Dreifelderwirtschaft nicht gebräuchlich; entsprechend karg fielen vielerorts die Ernten aus.
    Die Menschen lebten in bescheidenen, zu Weilern oder kleinen Dörfern versammelten Wohnstätten, meist aus Lehm, manchmal aus Ziegelwerk, umgeben von dornigen Hecken, bisweilen sogar Palisaden. Alles war denkbar einfach: ein offener Holzbau, Kornspeicher, Verschläge für Vieh und Unfreie, etwas abseits die Feuerstelle zum Kochen. Ab und an eine städtische Siedlung, die sich im Westen beim näheren Hinsehen allerdings meist als ein von der Natur wieder erobertes, verblichenes Skelett einer einstmals römischen Stadt entpuppte: von Pflugland umgebene Ruinenviertel, mehr schlecht als recht ausgebesserte Steinbauten, die manchmal in Kirchen oder Zitadellen umgewandelt wurden. In ihrer Nähe geduckt standen die Hütten der Weinbauern, Weber und Schmiede, wobei letztere Handwerker als Dienstmannen Schmuck und Waffen für den Bischof oder die Garnison fabrizierten.
    Und überall Wald, Wald und noch einmal Wald, durch den sich die verrottenden Römerstraßen wie hilflose Würmchen schlängelten – so sah das Abendland des 10. Jahrhunderts aus, in seiner Ländlichkeit gegenüber bedeutenden Reichen wie Cordoba oder Byzanz arm und mittellos.
     
    Eine Welt in den Fängen des Hungers.
    Denn trotz der dünnen Besiedelung war die Bevölkerung in Wirklichkeit zu zahlreich. Mit fast bloßer Hand kämpfte man gegen eine unzugängliche Natur, deren Gesetzen man immer wieder erlag, gegen einen unfruchtbaren, weil noch unzulänglich bearbeiteten Boden. Kein Bauer, der ein Korn säte, rechnete in einem nicht allzu schlechten Jahr damit, mehr als drei Körner zu ernten – immerhin genug, um bis Ostern Brot essen zu können. Danach musste man sich neben Wildtieren und Fisch wohl oder übel mit Wurzeln und Beeren begnügen, jener Gelegenheitsnahrung, die man dem Wald oder den Flusstälern abringen konnte. War die Witterung ungünstig, fehlte das Korn noch früher und die Bischöfe mussten die Verbote aufheben, die Ordnung der Riten verletzen und beispielsweise erlauben, dass in der Fastenzeit Fleisch gegessen wurde.
    Manchmal, wenn übermäßige Regenfälle den Boden durchweichten, wenn Stürme die Ernte vernichteten, steigerten sich die bekannten Mangelzustände zu wahren Hungersnöten. Das ganze Jahr über satt zu sein erschien damals als außerordentliches Privileg, das nur für sehr wenige galt: den König und seine Leute, Adelige, Prediger, Mönche. Alle anderen waren mehr oder weniger Sklaven des Hungers; sie empfanden ihn als spezifische Bedingung des menschlichen Daseins. Das Leiden, so dachten sie, liege in der Natur des Menschen.
    Und dieser Mensch fühlt sich entblößt, dem Bösen, dem Tod ausgeliefert. Weil er ein Sünder ist. Seit Adams Fall muss er leiden, und niemand kann sich brüsten, die Erbsünde überwunden zu haben.
    Denn das Abendland war in diesem dunklen Jahrhundert christlich, zumindest »christianisiert«, wenngleich hinter dieser bisweilen eher hauchdünnen Schicht die alten heidnischen Götter lebendig und wirksam waren wie eh und je.
    Kalt, scheußlich, einsam, gefährlich – ein Horrorszenarium?
    Mitnichten!
     
    Denn alles gerät in Bewegung in diesem dunklen Jahrhundert, und was sich da langsam zu formen beginnt und uns bis heute geprägt hat, kann man nur verstehen, wenn man historisch ein ganzes Stück zurückgeht.
VOM RÖMISCHEN WESTEN IN DEN »WILDEN SÄCHSISCHEN OSTEN«: POLITISCHE EINIGUNGEN UND FRÜHE MACHTKONZENTRATIONEN IM 10. JAHRHUNDERT
    Das ausgehende Karolingerreich hatte in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts einen erstaunlichen Transformationsprozess durchlaufen. Der Vertrag von Verdun, 843 vom Hochadel erzwungen, führte zu zwei Teilreichen, die aufgrund ihrer inneren Struktur viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, sich jedoch unter den veränderten Bedingungen der Zeit sehr unterschiedlich entwickelten. In anderen Worten: Das westfränkische Reich unter Karl dem Kahlen und das ostfränkische
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