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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten
Autoren: Erich Maria Remarque
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Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.
      »Es tut mir leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten hatten«, sagte er.
      Die Wirtin wehrte ab. »Lassen Sie sich’s nur gut gehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?«
      Steiner machte eine ziellose Geste. »Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.«
      Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nuß baumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war. »Nehmen Sie noch einen auf den Weg …«
      Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.
      »Sliwowitz?« fragte Steiner.
      Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.
      Der wischte sich den Schnurrbart. »Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht«, erklärte er.
      »Natürlich!« Die Wirtin goß sein Glas wieder voll. »Warum trinken Sie denn nicht?« fragte sie Kern.
      »Ich kann nicht. So auf den leeren Magen …«
      »Ach so!« Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde. »Gott ja, er wächst wohl noch«, murmelte sie. »Franzi«, rief sie dann. »Ein belegtes Brot!«
      »Danke, das ist nicht nötig«, Kern errötete. »Ich habe keinen Hunger.«
      Die Kellnerin brachte ein großes doppeltes Schinkenbrot. »Zieren Sie sich nicht«, sagte die Wirtin. »Vorwärts.«
      »Willst du nicht die Hälfe?« fragte Kern Steiner. »Es ist zuviel für mich.«
      »Rede nicht! Iß!« erwiderte Steiner.
      Kern aß das Schinkenbrot auf und trank ein Glas Sliwowitz.
      Dann verabschiedeten sie sich. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Ostbahnhof. Im Zug fühlte sich Kern plötzlich sehr müde. Das Rattern des Wagens schläferte ihn ein. Er sah die Häuser wie im Traum vorübergleiten, Fabrikhöfe, Straßen, Wirtsgärten mit hohen Nußbäumen, Wiesen, Felder und die sanfe, blaue Dämmerung des Abends. Er war satt, das wirkte auf ihn wie ein Rausch. Seine Gedanken wurden unscharf, sie verloren sich in Träumen – von einem weißen Hause zwischen blühenden Kastanien, von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken, die ihm einen Ehrenbürgerbrief überreichten, und von einem uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Entschuldigung bat.
      Es war fast dunkel, als sie am Zollhaus ankamen. Der Kriminalbeamte übergab sie der Zollwache und stapfe dann zurück durch die fliederfarbene Dämmerung.
      »Es ist noch zu früh«, sagte der Zollbeamte, der die Automobile abfertigte. »So um halb zehn ist die beste Zeit.«
      Kern und Steiner setzten sich vor die Tür auf eine Bank und sahen zu, wie die Automobile ankamen. Nach einiger Zeit kam ein zweiter Zollbeamter heraus. Er führte sie rechts vom Zollhaus einen Fußweg entlang. Sie kamen durch Felder, die stark nach Erde und Tau rochen, an ein paar Häusern mit erleuchteten Fenstern und einem Waldstreifen vorbei. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. »Geht hier weiter und haltet euch links, damit ihr durch die Büsche gedeckt seid, bis ihr an die March kommt. Sie ist jetzt nicht tief. Ihr könnt leicht hindurchwaten.«
      Die beiden gingen. Es war sehr still. Nach einer Weile sah Kern sich um. Die schwarze Silhouette des Beamten hob sich vom Horizont ab. Er beobachtete sie. Sie gingen weiter.
      An der March zogen sie sich aus. Sie packten ihre Kleider und ihr Gepäck zu einem Bündel zusammen. Das Wasser war moorig und schimmerte braun und silbern. Es waren Sterne und Wolken am Himmel, und der Mond brach manchmal durch.
      »Ich werde vorangehen«, sagte Steiner. »Ich bin größer als du.«
      Sie wateten durch den Fluß. Kern fühlte das Wasser kühl und geheimnisvoll an seinem Körper hochsteigen, als wollte es ihn nie mehr freigeben. Vor ihm tastete sich Steiner langsam und vorsichtig vorwärts. Er hielt seinen Rucksack und seine Kleider über den Kopf. Seine breiten Schultern waren weiß vom Mond überschienen. In der Mitte des Flusses blieb er stehen und sah sich um. Kern war dicht hinter ihm. Er lächelte und nickte ihm zu.
      Sie kletterten ans gegenüberliegende Ufer und trockneten sich mit ihren Taschentüchern flüchtig ab. Dann zogen sie sich an
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