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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Namen seiner Frau.

    ER NAHM EINE neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.
    »Wie alt bist du?« fragte Steiner.
    »Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.«
    »So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?«
    Kern schüttelte den Kopf.
      Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: »Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?«
      »Ja.« Kern drehte sich um. »Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.«
      »Dann weißt du schon viel. Vor dem Kriege wußten nur wenige Leute so was.«
      »Vor dem Kriege – das war vor hundert Jahren.«
      »Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?«
      »Ja.«
      »Schön.« Steiner zog an seiner Zigarette. »Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuß ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.
      Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, daß er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewußt hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuß fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, daß er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.«
      Er machte eine Pause.
      »Ihr hattet eben schrecklichen Hunger«, sagte Kern.
      »Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: daß neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?«
      »Nein«, sagte Kern.
      Steiner lächelte. »Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilf dir’s.«
      Er stand auf. »Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, daß ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepaßt. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Daß ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?«
    »Nein.«
      »Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.« Er schlug Kern auf die Schulter. »Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärf die Sinne.«
      Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. »Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfer im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.«
      Kern nickte.
      »Also mach’s gut. Und vergiß das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne daß man denken muß. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jaß und Tarock. Im Poker mußt du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.«
      »Gut«, sagte Kern. »Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.«
      »Dankbarkeit mußt du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!«
      »Und besser als tot.«
      »Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!«
      »Servus, Steiner!«
      Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaf war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.
      Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanf durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.
      Kern beschloß zu versuchen, nachts noch bis Preßburg zu kom men und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten.

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