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Liebe auf Dauer

Titel: Liebe auf Dauer
Autoren: Hans Jellouschek
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zurückhaltender,verschlossener Mann. Er ging zwar nicht fremd, lebte aber in seiner eigenen Welt und war für die Frau nicht zugänglich. Immer stärker rückte darum für sie der kleine Friedrich in die Rolle des Partners. Ihre Emotionalität suchte bei ihm Resonanz, ihr Geborgenheitsbedürfnis bei ihm Halt. Damit war der Junge allerdings vollständig überfordert, und dies wiederum führte zu ständigen Enttäuschungen der Mutter und immer neuen Abwertungen seiner Person. Noch als Erwachsener spürte er das schlechte Gewissen, dass er ihr einfach nicht gerecht werden konnte.
    Als wir darüber sprachen, ging beiden immer deutlicher auf: Genau diese Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie wiederholten sie jetzt in ihrer Beziehung miteinander. Sie fühlte sich von ihm hängen gelassen und darum immer stärker genötigt, alles unter Kontrolle zu halten, genau wie damals bei ihrer Mutter. Und er bekam immer wieder dasselbe resignative Gefühl wie damals, der Mutter nicht gerecht zu werden und darum nichts wert zu sein. Als sich die beiden ansahen, sahen und spürten sie in diesem Moment im anderen das Kind in seinen Nöten von damals. Er erfasste: Ich bringe dich mit meinem Verhalten genau in dieselbe Not von damals, hängen gelassen zu werden und alles kontrollieren zu müssen. Und sie bemerkte: Und ich, wenn ich so wütend über dich herfalle, löse bei dir dieselbe Resignation und hilflose Passivität aus, die du damals bei deiner Mutter erlebt hast.
    Hier war nun ein wesentlicher Zugang zum anderen geschaffen. Sie verstanden wichtige Zusammenhänge zwischen Jetzt und Damals, und vor allem: Sie verstanden es nicht nur im Kopf. Sie berührten sozusagen gegenseitig liebevoll ihre verletzten Kinder von damals. Wo immer wieder die gegenseitige Aggression aufflammte, entwickelten sie nun immer häufiger Mitgefühl mit dem anderen und die Bereitschaft, sich gegenseitig in diesen Punkten zu unterstützen, statt übereinander herzufallen.
    Das war ein entscheidender Wendepunkt, und so erlebe ich es oft bei Paaren: Wenn sie die Not ihrer »inneren Kinder« kennen lernen, wenn sie zu verstehen beginnen, wo sie in der Beziehung wechselseitig auf ihre wunden Punkte von damals stoßen. Hier gibt es erfahrungsgemäß in jeder Beziehung die heftigsten Konflikte, hier ist aber auch der Ansatzpunkt zu neuer Begegnung und zu einem tiefen wechselseitigen Verstehen.
    Partner sollten sich darum viel voneinander erzählen, und sie sollten viel voneinander wissen wollen. Sonst droht die Gefahr wachsenden gegenseitigen Befremdens und fortschreitender Entfremdung. Die Entdeckung der fremden Seiten am Partner wird so nicht zum Verlust der anfangs erlebten Vertrautheit, sondern im Gegenteil zur Chance, diese zu vertiefen und zu erweitern. Damit geschieht ein wesentlicher Schritt zur Weiterentwicklung der Verliebtheits-Liebe in eine reife Erwachsenen-Liebe.
Kennen lernen – lieben lernen
    Warum ist es also wichtig, in diesem fortlaufenden Prozess des einander Kennenlernens zu bleiben? Ich fasse das Gesagte nochmals zusammen:
Wenn ich nicht verdränge, ausblende oder später bekämpfe, was mir am anderen auch fremd ist, sondern es aufmerksam betrachte und beachte, kommt er »als anderer« in den Blick. Ich begegne damit der Gefahr, ihn »einzugemeinden« und ihm damit nur in einem Teil seiner Persönlichkeit gerecht zu werden.
Wenn ich der Fremdheit des anderen begegne, bin ich herausgefordert, ein Stück weit die eigenen Ichgrenzen zu übersteigen. In der Liebe geht es um Hin-gabe, nicht um Einverleibung.
Dadurch, dass ich mich auf Entdeckungsreise zum anderenbegebe, lerne ich Empathie, Einfühlungsvermögen. Dieses besteht darin, dass ich imstande bin, aus mir herauszugehen und mich in den anderen hineinzuversetzen. Und das ist eine zentrale Fähigkeit des Menschen, der zu lieben versteht.
Oft enthält das Kennenlernen und Verstehen der fremden oder sogar befremdlichen Seiten des anderen auch sehr förderliche Entwicklungsherausforderungen für mich selbst: Ich lerne zum Beispiel geduldiger zu werden, ich lerne meine eigene Art zu relativieren, weil ich sehe, dass es anders auch ganz gut, manchmal sogar besser geht. Oder der andere fordert mich gerade mit seiner »fremden« Eigenart stark heraus, meine eigenen wunden Punkte und Defizite ins Auge zu fassen, dafür Verantwortung zu übernehmen und etwas dafür zu tun.
Einwände
    Ist das wirklich ein Ziel, möglichst alles vom anderen zu wissen? Soll der andere nicht immer auch ein Geheimnis
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