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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit
Autoren: Thomas Ziegler
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ihrer Hintermänner in der Rüstungsindustrie und der Bonner Politprofi-Szene – verzichtete Alf auf die Fortsetzung seiner Stellungssuche. Es erschien ihm unpassend, den Kampf gegen nuklearen Holocaust in irgendeinem Personalbüro zu beginnen und zwei Zentimeter dicke, computergerecht gestylte Einstellungsfragebögen auszufüllen, die ohnehin nur dazu dienten, arbeitsscheues Gesindel auszusortieren und an die Zahlstellen des Arbeitsamtes zu verweisen. Bereits Mundgeruch konnte ein Ablehnungskriterium sein – ein anderer Grund, die Einstellung zu verweigern, war Arbeitslosigkeit.
    Alf nahm ein karges Frühstück aus Knäckebrot und Lachsschinken ein und spülte mit einer Tasse Espresso den täglichen Upper hinunter. So gestärkt streifte er seine smogresistente Kunststoffjacke über, verließ das Haus und zog gegen den Krieg in den Krieg.
    Als er die menschenüberfüllten Bürgersteige und das Verkehrschaos auf den Straßen sah, blinzelte er schockiert. Wer in dieser großen Stadt arbeitet eigentlich noch? fragte er sich. Warum sitzen diese Leute nicht in ihren Büros? Wer, zum Teufel, bedient die Computerterminals? Wer kontrolliert die Roboter in den automatischen Fabriken? Das ganze System der Arbeitslosenversicherung wird zusammenbrechen, und wenn das geschieht, bin ich finanziell ruiniert. Feine Aussichten! Mit federnden Schritten eilte er hinunter in den schwülen Talkessel, in die geschäftige City, und begab sich zum Platz der Kultur, wo jeder alles sagen konnte, was er wollte, bis man ihn abholte.
    Interessiert sah er sich um, über die Blumenkübel voller Geranien und Narzissen hinweg, ignorierte die obszönen Geräusche der mutierten Kohlköpfe, die den Kulturplatz säumten, und erspähte vor den Türen der Kauf + Spar- Filiale einen Infostand der Rot-Grünen-Liste. V-Männer der Bonner Politprofis und gewerbsmäßige Denunzianten lungerten (als mündige Bürger getarnt) um den Infostand herum und schleppten säckeweise das auf Recyclingpapier gedruckte Agit-Prop-Material davon. Nicht weit entfernt verteilte ein lächelnder, bebrillter Mittvierziger kostenlose Werbeexemplare der Regierungszeitung Erwachet! und stellte sein Treiben erst ein, als er von den Wermutbrüdern und Junkies, die den Platz instandbesetzt hatten, mit leeren Schnapsflaschen und gebrauchten Injektionspistolen beworfen wurde. Weiter rechts spielte eine alternative Songgruppe auf einem selbstgebastelten Synthesizer Das Lied vom nuklearen Profitier. Die betagten Damen an den Tischen des nahen Straßenbistros bestellten eine neue Flasche Pfefferminzlikör und prosteten der Songgruppe zu. Ein Mann in einem geleasten Nadelstreifenanzug schlenderte an den Tischen vorbei und bot den Rentnerinnen das Sortiment seines Bauchladens an: Sticker, Wimpel und Plaketten; angefangen vom nostalgischen ATOMKRAFT? – NEIN DANKE! bis hin zu den exzentrischen Entwürfen des Mailänder Design-Nihilisten Paolo Lombardi, die schon auf der letzten Berlinale für einen schrecklichen Skandal gesorgt hatten. Die gesamte Medienrepublik war darob in Aufruhr geraten, und der Kanzler persönlich hatte Lombardi mit einem unbefristeten Nachtmalverbot auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland und der überseeischen Protektorate in den Grenzen von 1914 belegt. Die dramatischen außenpolitischen Verwicklungen, die dieses Verbot heraufbeschworen hatte, waren noch immer nicht entwirrt – die Hälfte der in Bonn akkreditierten Botschafter weigerten sich nach wie vor, das Kanzleramt unbewaffnet zu betreten.
    Alf rümpfte die Nase. Ein klassischer Fall von Politonanie, dachte er. Lombardi ist schon seit drei Jahren tot. Und nachts hat’ er sowieso nie gemalt.
    Einige Redner hatten sich bereits auf dem Platz der Kultur eingefunden. Von ihren Pulten aus – bunt bemalten Apfelsinenkisten und leeren Bierfässern – verbreiteten sie feurige Polemiken wider den Wahnsinn der Doppelverpackung von Kandiskonfekt und den Fortfall der Abschreibungsmöglichkeiten für Drittwagen.
    Ich hätte ein Megafon mitnehmen sollen, dachte Alf unzufrieden. In diesem Höllenlärm versteht mich ja kein Arsch.
    Über die Nachrichtenwand an der futuristischen Fassade des Kauf + Spar- Supermarktes flimmerten aktuelle Meldungen.
     
    US-PRÄSE SPOON BEFAHL EINSATZ DER NATIONALGARDE GEGEN DIE KAKERLAKEN-PLAGE IM BUNDESSTAAT TEXAS
     
    ***
     
    EIN GROSSES SORTIMENT INSEKTENVERNICHTUNGSMITTEL FINDEN SIE IN DER ABTEILUNG GRÜNER WOHNEN VON KAUF + SPAR
     
    ***
     
    LOHNRUNDE 2000: KANZLER
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