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Liberator

Liberator

Titel: Liberator
Autoren: Richard Harland
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nicht vorstellen, dass ein Protzer allein überhaupt fähig wäre, einen Mord zu begehen.
    Jetzt war es das andere Tischende, das Cols Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, denn Quinnea rang hörbar nach Luft, bevor es aus ihr herausbrach: »So etwas ist früher niemals passiert. Es ist einfach zu viel für mich. Und nun lassen sich diese Dreckigen auch noch ermorden!«
    Cols Mutter war eine ätherische dünne Frau, immer leicht zittrig, mit strähnigen Haaren in der Farbe toten Herbstlaubs. Orris versuchte sie zu beruhigen, aber das blieb ohne Wirkung. Dann schaute er Col schweigend an. Das war eine Bitte um Hilfe.
    »Es war nur ein Dreckiger, Mutter«, sagte Col. »Und der hat es sich wahrlich nicht ausgesucht, ermordet zu werden!«
    Quinnea schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie zuhören dürfen, als davon erzählt wurde. Furchtbar! Einfach furchtbar! Nachrichten dieser Art tun mir einfach nicht gut.«
    »Ja, aber du darfst der Befreiung nicht die Schuld dafür geben«, sagte Orris beruhigend. Er streichelte ihre Hand, was sie wie ein aufgeschrecktes Kaninchen in die Höhe springen ließ. »Am Ende werden wir alle unsere Vorteile aus der Befreiung ziehen, denn wir sind nun frei und dürfen wir selbst sein. Wir haben die Freiheit, glücklich zu sein.«
    Orris glaubte fest an die Revolution, das wusste Col, und war sicherlich mehr als erleichtert darüber, dass er nicht länger wegen mangelnder Härte gegenüber den Dreckigen als Versager hingestellt werden konnte. Trotzdem sah er nicht besonders glücklich aus mit seinen Froschaugen und den hängenden Backen, sondern schaute noch immer so drein, als stünde das Ende der Welt bevor.
    Quinnea hüstelte. »Ich kann mir nicht helfen, vielleicht bin ich ja – wie war das Wort noch – reaktionär? Ich kann nicht mehr. Zu viele Veränderungen. Zu schnell. Alle meine Freunde sind gegangen. Vielleicht hätten wir auch gehen sollen.«
    »Nein, meine Liebe. Wir sind geblieben, um unsere Rolle in dieser neuen Gesellschaft zu spielen.«
    »Niemand, den ich kenne, ist geblieben! Die Turbots. Die Trumpingtons. Die Squellinghams. Alle weg!«
    Col hätte darauf hinweisen können, dass gerade die Squellinghams alles andere als Freunde gewesen waren. Aber stattdessen sagte er: »Victoria und Albert sind geblieben!«
    »Das ist aber nicht mehr so wie früher!«
    Quinnea war kaum zu beruhigen.
    »Warum können wir sie nicht nennen, wie wir es immer getan haben: Ihre Majestät Königin Victoria II. und ihr Gemahl Seine Hoheit Prinz Albert?«
    »Weil wir nicht mehr in einer Monarchie leben«, antwortete Orris. »Wir leben nun in einer Republik. Wir müssen uns der neuen Zeit anpassen.«
    »Ich mag diese neue Zeit aber nicht. Ich will, dass es wieder so ist wie früher.«
    »Wir können doch ganz neue Dinge lernen«, insistierte Orris. » Ich jedenfalls lerne, mehr wie ein Dreckiger zu sein. Nicht mehr so träge und spießig. Spontaner. Sieh mal, was ich heute Morgen gelernt habe!« Er hob seine rechte Hand und schnippte mit den Fingern – nur dass kein Schnippen zu hören war, sondern nur ein leiser dumpfer Ton. Enttäuscht schaute Orris auf seine Finger. »Heute morgen hat es noch geklappt«, sagte er. »Ich habe so lange geübt, bis ich viermal hintereinander schnippen konnte.«
    Quinnea sah weg. »Ich habe keine Lust, etwas mit meinen Fingern zu tun.«
    »Aber das war doch nur ein Beispiel«, erwiderte Orris ernst. »Wir können eine neue Einstellung zum Leben lernen. Mehr Fröhlichkeit. Wir haben die Freiheit, glücklich zu sein. Ich bin mir sicher, dass ich begonnen habe, ganz unabsichtlich zu lächeln.«
    Col sagte nichts. Sein Vater war kein Mensch, den man so ohne weiteres lieben konnte, egal ob er nun bedrückt oder fröhlich war. Aber Col mochte ihn. Er war ein anständiger Mensch. Ein sehr anständiger Mensch.
    »Früher war ich glücklich«, begann Quinnea wieder. »Weißt du, was der glücklichste Tag meines Lebens war? Die Hochzeit meines ältesten Sohnes.« Mit strahlenden Augen wandte sie sich Col zu. »Kannst du dich erinnern? Die Menge der Gratulanten auf dem Weg zur Staatskapelle. Hunderte von Gästen beim Hochzeitsempfang. Überall Blumen und Banner. Musik und Tanz. Und die Desserts. Ich habe drei entzückende kleine Cupcakes gegessen!«
    Col nickte ohne Begeisterung. Er selbst konnte sich nur vage an die Zeremonie und den Ringtausch in der Staatskapelle erinnern. Und vom Empfang stand ihm nur eine Sache klar vor Augen: nämlich der Augenblick, als Riffs Verkleidung
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