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Liberator

Liberator

Titel: Liberator
Autoren: Richard Harland
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die Dreckigen diejenigen von den oberen Decks, die nach der Befreiung an Bord geblieben waren. Col sträubte sich gegen diesen Ausdruck, obgleich er weniger abfällig war als das Wort Dreckige , das die Leute von den oberen Decks für die Menschen benutzt hatten, die ganz unten zu leben gezwungen waren.
    In den letzten drei Monaten hatte sich die Situation auf dem Juggernaut von Woche zu Woche verschlimmert. Anfangs hatten sie davon geträumt, dass Dreckige und Oberdeckler wie in einem goldenen Zeitalter perfekter Harmonie miteinander leben würden. Der neue Name des Juggernaut Worldshaker – Liberator – sollte Programm sein: von der Tyrannei zur Freiheit. Aber so war es nicht gekommen. Statt Harmonie herrschte Misstrauen, statt in Freiheit lebten die Protzer nun in Ghettos für sich. Und an alldem war nur dieser Saboteur schuld. Es musste einer von den Oberdecks sein, der an Bord geblieben war – nicht um etwas Gemeinsames aufzubauen, sondern um Rache zu üben. Aber wer konnte es sein? Und wieso mussten sie nun alle dafür zahlen?
    Der Große Versammlungssaal befand sich ebenso wie die Norfolk-Bibliothek auf Deck 44. Als Col und seine Schwester den Saal betraten, war er bereits zum Bersten gefüllt. Gillabeth pflügte sich ihren Weg nach vorn, wo die Mitglieder des Revolutionsrates standen.
    Der Saal mit seiner ovalen Kuppeldecke und den weißen Marmorsäulen war riesig. Vor der Revolution wurden hier Bälle und Empfänge abgehalten, stets war die Halle mit Blumengestecken und Pflanzenkübeln, mit Statuen und Bannern geschmückt. Col dachte an seine eigene Hochzeitsfeier, die hier stattgefunden hatte, an seine arrangierte Ehe mit Sephaltina Turbot. Inzwischen wurde die Halle nur noch für praktische Zwecke genutzt, für politische und andere öffentliche Zusammenkünfte. Nur der riesige Kronleuchter mit seiner schimmernden Glaspyramide erinnerte an die vergangene Pracht.
    Die Menge wurde immer dichter, je weiter nach vorne Col und Gillabeth vordrangen, und Col entschied sich, auf halber Strecke anzuhalten.
    »Es reicht«, sagte er und blieb neben einer Säule stehen.
    Ob Gillabeth ihn nun gehört hatte oder nicht, sie drängte weiter. Feindliche Blicke folgten ihr, als sie sich mit ihren Ellbogen den Weg bahnte bis etwa zehn Schritte vor den Rat. Riff stand dort mit Dunga, Padder und Gansy, dem neuen Mitglied, das in den Rat gewählt worden war, um Fossie zu ersetzen, die während der Befreiungsschlacht ums Leben gekommen war.
    Col lauschte den leisen Gesprächen um ihn herum. Er hörte wie Zeb erwähnt wurde und Shiv – das waren die beiden noch fehlenden Ratsmitglieder. Warum waren sie noch nicht da? Er entdeckte ein vertrautes Gesicht neben sich: Es war einer der Dreckigen, der mit ihm und Riff gemeinsam Sir Mormus daran gehindert hatte, den Juggernaut in die Luft zu jagen. Er erinnerte sich nicht an seinen Namen, vielleicht hatte er ihn auch noch nie gehört, er hoffte aber, der Junge würde sich an ihn erinnern.
    »Was ist diesmal geschehen?«, fragte er ihn. »Wie schlimm ist es?«
    Der Junge drehte sich um und erkannte ihn gleich – das sah Col in seinen Augen. Aber er antwortete nicht. Cols Taten während der Revolution schienen nicht mehr zu zählen. Eine lange Minute blickte er Col finster an. Dann verzog er verächtlich die Lippen und drehte sich weg.
    Es war wie ein plötzlicher Temperaturabfall. Col merkte, dass die Stimmung unter den Dreckigen bedrohlicher denn je war. Etwas hatte sich verändert, eine Grenze war überschritten worden.
    Er stellte sich auf Zehenspitzen und blickte über die Menge. Mit seinen sechzehn Jahren war er bereits größer als die meisten Protzer, während die Dreckigen aufgrund ihrer Lebensumstände im Unterdeck meist klein und sehnig waren. Inzwischen waren sie nicht mehr in Lumpen gehüllt, sondern trugen einfache, oft ärmellose Hemden und weite bequeme Hosen.
    Es waren nur zwei andere Protzer im Großen Versammlungssaal: sein alter Schuldirektor Dr. Blessamy und sein alter Klassenlehrer Mr. Bartrim Gibber. Col konnte bis heute nicht verstehen, warum die beiden an Bord geblieben waren, insbesondere Mr. Gibber, der schon bei der Erwähnung des Wortes Dreckige angewidert gewesen war.
    »Bitte! Habt noch ein bisschen Geduld. Shiv wird gleich hier sein. Macht schon mal ’nen Weg frei!« Riff hatte im Namen des Revolutionsrates zur Menge gesprochen. Cols Herz machte einen Sprung, als er sie sah: die großen dunklen Augen, der ausdrucksstarke Mund, die hohen Wangenknochen,
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