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Lewis, Michael

Lewis, Michael

Titel: Lewis, Michael
Autoren: The Big Short
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dass ihm diese Theorie gerecht wurde. Seine Mutter
Lillian hat eine ganz andere: »Steven hat eigentlich zwei Persönlichkeiten«,
sagte sie vorsichtig. Er war einerseits der kleine Junge, dem sie ein
nagelneues Fahrrad geschenkt hatte, dass er sich sehnlichst wünschte - nur um
damit in den Central Park zu radeln und es einem Kind zu leihen, das er nie
zuvor gesehen hatte und das sich damit schleunigst aus dem Staub machte. Er war
aber auch der junge Mann, der den Talmud intensiv studiert hatte - nicht, weil
er sich für Gott interessierte, sondern wegen der darin enthaltenen
Widersprüche. Seine Mutter war zur Vorsitzenden des Board of Jewish Education,
des jüdischen Bildungsausschusses von New York, ernannt worden, und Eisman
durchforstete den Talmud nach Ungereimtheiten. »Wer sonst würde den Talmud
studieren, um Fehler zu finden?«, fragte seine Mutter. Später, nachdem Eisman
richtig reich geworden war und darüber nachdachte, größere Summen gemeinnützigen
Zwecken zuzuführen, stieß er auf eine Organisation namens Footsteps, die
chassidische Juden dabei unterstützte, sich von ihrem Glauben abzuwenden. Er
konnte noch nicht einmal Geld spenden, ohne Kontroversen vom Zaun zu brechen.
    So
gut wie jedermann stellt Eisman als sehr eigentümlichen Charakter dar. Und an
die Wall Street war er zu Beginn einer sehr eigentümlichen Phase gekommen.
Aufgrund der Entstehung des Marktes für Hypothekenpapiere zehn Jahre zuvor
hatte sich die Wall Street auf einen ganz neuen Wirkungskreis ausgedehnt: die
Schulden einfacher amerikanischer Bürger nämlich. Zunächst befasste sich die
neue Maschinerie des Anleihenhandels mit dem solventeren Teil der
amerikanischen Bevölkerung. Mit der Ausweitung des Marktes für
hypothekenunterlegte Schuldtitel auf weniger kreditwürdige Amerikaner bezog sie
ihren Treibstoff dann aus den Schulden des weniger zahlungskräftigen Teils der
Bevölkerung.
    Hypothekenanleihen
unterschieden sich wesentlich von herkömmlichen Unternehmens- oder
Staatsanleihen. Eine hypothekarisch besicherte Schuldverschreibung war kein
Einzelkredit über einen höheren Betrag und einen klar festgelegten Zeitraum.
Sie stellte vielmehr einen Anspruch auf die Kapitalströme aus den gebündelten
Hypothekendarlehen Tausender von Eigenheimkäufern dar. Diese Kapitalströme
waren von Haus aus problematisch, da die Kreditnehmer ihre Darlehen jederzeit
tilgen konnten. Das war der Hauptgrund dafür, dass sich die Investoren zunächst
nur zögerlich in Eigenheimhypotheken engagierten. Hypothekennehmer zahlten
ihre Schulden in der Regel nur dann zurück, wenn die Zinsen fielen und sie sich
billiger refinanzieren konnten. Der Inhaber der Hypothekenanleihe saß dann auf
einem Haufen Bargeld, das er zu niedrigeren Zinsen investieren musste. Wer in Eigenheimhypotheken
investierte, wusste nicht, wie lange sein Kapital investiert blieb. Er wusste
nur, dass er sein Geld dann zurückerhalten würde, wenn es ihm am wenigsten in
den Kram passte. Um diese Ungewissheit zu verringern, hatten sich die Leute,
mit denen ich bei Salomon Brothers zusammenarbeitete und die den Markt für
solche Hypothekenpapiere geschaffen hatten, eine clevere Lösung einfallen
lassen. Sie nahmen gigantische Pools von Eigenheimkrediten und zerlegten die
Zahlungen der Häuslebauer in sogenannte Tranchen. Wer die erste Tranche kaufte,
war vergleichbar mit dem Eigner des Erdgeschosses im Falle einer
Überschwemmung: Ihn traf die erste Welle vorzeitiger Tilgungen von Hypotheken.
Dafür erhielt er einen höheren Zinssatz. Käufer der zweiten Tranche - sozusagen
dem ersten Stock des Hochhauses - bekamen die nächste Welle verfrühter
Rückzahlungen ab und wurden dafür mit dem zweithöchsten Zins honoriert. Und so
weiter und so fort. Wer in den obersten Stock des Gebäudes investierte, bekam
die niedrigste Verzinsung, genoss jedoch die größte Sicherheit, dass seine
Anlage nicht vor dem Wunschtermin endete.
    Die
große Angst der Hypothekeninvestoren der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts
war, dass ihr Kapital zu schnell zurückgezahlt werden könnte - nicht, dass sie
es nicht wiedersehen würden. Die einer Hypothekenanleihe zugrunde liegenden
gebündelten Hypothekendarlehen entsprachen ihrer Größe und der Bonität der
Kreditnehmer nach den Standards, die verschiedene quasistaatliche Stellen
festgesetzt hatten: Freddie Mac, Fannie Mae und Ginnie Mae. Diese Darlehen
waren de facto durch den Staat garantiert. Konnten die Eigenheimbesitzer nicht
zahlen, sprang die
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