Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
tauschten ein Lächeln aus.
»Kopf runter«, befahl Sachs, und Percey gehorchte, drückte sich wieder tief ins Gras.
Amelia Sachs richtete sich auf.
Sie ging nicht in die Hocke, drehte sich nicht seitlich, um eine kleinere Zielfläche zu bieten. Sie stand einfach in der Standardschußstellung da - beide Hände um die Waffe gelegt. Stand in Richtung des Hauses, des Sees und des Hügels, von wo ein Zielfernrohr direkt auf sie gerichtet war. Die kleine Pistole fühlte sich in ihrer Hand so leicht wie ein Whiskyglas an.
Sie zielte auf das Glitzern des Teleskops - das so weit entfernt war wie das andere Ende eines Footballfeldes.
Auf ihrer Stirn standen Schweiß- und Tautropfen.
Atmen, atmen.
Nimm dir Zeit.
Warte...
Ein Zittern lief durch ihren Rücken, ihre Arme und ihre Hände. Sie unterdrückte die aufkommende Panik.
Atmen.
Hinhören. Hinhören.
Atmen...
Jetzt!
Sie wirbelte herum und warf sich auf die Knie. Im selben Augenblick wurde das Gewehr abgefeuert, das keine zwanzig Meter hinter ihr zwischen den Bäumen herausragte. Die Kugel pfiff genau über ihrem Kopf durch die Luft.
Sachs starrte in Jodies verblüfftes Gesicht, das Jagdgewehr hatte er noch immer an die Wange gepreßt. Ihm wurde gerade klar, daß er sie doch nicht hatte täuschen können. Daß sie seine Taktik erraten hatte. Daß er ein paar Schüsse vom See aus abgefeuert und dann einen der toten Marshals den Hügel hinaufgeschleppt hatte, ihn dort in Scharfschützenposition gelegt und ihm eines der Jagdgewehre in den Arm gedrückt hatte. Auf diese Weise hatte er dafür gesorgt, daß sie sich nicht aus ihrer Kuhle trauten, während er die Straße entlanggerannt war und sich dann von hinten an sie herangeschlichen hatte.
Irreführung...
Für einen kurzen Augenblick rührte sich keiner von beiden.
Die Luft war vollkommen still. Keine Nebelschwaden zogen vor
bei, kein Lufthauch bewegte die Bäume und das Gras.
Ein leichtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während sie die Pistole mit beiden Händen anhob.
Hektisch warf er die Hülse aus dem Jagdgewehr und lud nach. Als er das Gewehr wieder an seine Wange hob, feuerte Sachs. Zwei Schüsse.
Beides klare Treffer. Sie sah, wie er zurückgeworfen wurde und das Gewehr wie der Stock einer Majorette durch die Luft wirbelte.
»Bleiben Sie bei ihr, Detective!« rief Sachs zu Bell herüber und rannte zu Jodie. Er lag auf dem Rücken im Gras.
Die eine Kugel hatte seine linke Schulter zertrümmert. Die andere hatte das Zielfernrohr getroffen und Metall- und Glassplitter in das rechte Auge des Killers getrieben. Sein Gesicht war eine einzige blutige Masse.
Sie umklammerte ihre winzige Waffe, hielt den Finger fest am Abzug und preßte den Lauf an seine Schläfe. Dann filzte sie ihn. Zog eine Glock und ein langes Carbidmesser aus seinen Taschen. Weitere Waffen fand sie nicht.
»Alles in Ordnung!« rief sie.
Als sie sich wieder aufrichtete und ihre Handschellen herauszog, hustete und spuckte der Tänzer. Er wischte sich das Blut aus seinem unversehrten Auge. Dann hob er den Kopf und blickte über das offene Feld. Er entdeckte Percey Clay, die sich langsam aus dem Gras erhob und den Killer anstarrte.
Jodie schien bei ihrem Anblick zu erzittern. Er hustete erneut und stöhnte auf. Dann überraschte er Sachs, als er mit seinem unverletzten Arm versuchte, ihr Bein zur Seite zu schieben. Jodie war schwer -vielleicht sogar tödlich - verletzt und hatte kaum noch Kraft. Es war eine eigenartige Bewegung, vielleicht so, wie man einen störenden Pekinesen verscheucht.
Sie trat einen Schritt zurück, hielt dabei aber die Pistole weiter auf seine Brust gerichtet.
Doch der Totentänzer hatte jegliches Interesse an Amelia Sachs verloren. Auch seine Wunden und die schrecklichen Schmerzen, die sie ihm verursachen mußten, hatten für ihn keinerlei Bedeutung. Er hatte nur noch eines im Sinn. Mit übermenschlicher Anstrengung drehte er sich auf den Bauch und kroch stöhnend voran, indem er sich mit den Fingern durch den Dreck zog. Zentimeter um Zentimeter kämpfte er sich an Percey Clay heran, die Frau, mit deren Ermordung er beauftragt worden war.
Bell stellte sich neben Sachs. Sie reichte ihm die Glock, und gemeinsam richteten sie ihre Waffen auf den Tänzer. Sie hätten ihn mühelos stoppen -oder töten - können. Aber sie harrten wie versteinert aus und beobachteten diesen armseligen Mann, der so von seinem Auftrag besessen war, daß er noch nicht einmal zu bemerken schien, daß sein Gesicht
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