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Letzte Aufzeichnungen

Letzte Aufzeichnungen

Titel: Letzte Aufzeichnungen
Autoren: Erich Honecker
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Urteil über uns soll damit den Weg völlig frei machen, um auch die ›Kleinen‹ zu hängen. Schon bisher hat man sich allerdings hierbei wenig Zwang auferlegt 211 .
    Der Prozess soll die Grundlage für die Brandmarkung der DDR als ›Unrechtsstaat‹ bilden. Ein Staat, der von solchen ›Verbrechern‹ wie uns ›Totschlägern‹ regiert wurde, kann nur ein ›Unrechtsstaat‹ sein. Wer ihm nahestand, wer ein pflichtbewusster Bürger der DDR war, soll mit einem Kainszeichen gebrandmarkt werden.
    Ein Unrechtsstaat kann natürlich nur von ›verbrecherischen Organisationen‹ wie dem MfS, der SED usw. geführt und gestützt worden sein. Kollektivschuld und kollektive Verurteilung sollen an die Stelle individueller Verantwortlichkeit treten, um das Fehlen von Beweisen für die behaupteten Verbrechen zu verschleiern. Pfarrer aus der DDR geben ihre Namen für eine neue Inquisition, für eine moderne Hexenjagd. Millionen werden so gnadenlos ausgegrenzt, aus der Gesellschaft ausgestoßen. 212 Vielen werden die Existenzmöglichkeiten bis aufs Äußerste eingeschränkt. Es reicht, als IM registriert worden zu sein, um den bürgerlichen Tod zu erleiden. Der Journalist als Denunziant wird hoch gelobt und reich entlohnt, nach seinem Opfer fragt niemand. Die Zahl der Selbstmorde ist tabu. Das alles unter einer Regierung, die sich christlich und liberal nennt, sowie mit Duldung, ja sogar Unterstützung einer Opposition, die diesen Namen ebenso wenig verdient wie die Bezeichnung ›sozial‹.

    Michail S. Gorbatschow mit seiner Frau Raissa vor dem Brandenburger Tor, 26. April 1986
    Das alles geschieht mit dem selbst verliehenen Gütesiegel des Rechtsstaats.
    Der Prozess offenbart seine politische Dimension auch als Prozess gegen Antifaschisten. Zu einer Zeit, in der der rechte Mob ungestraft auf den Straßen tobt, Ausländer verfolgt und wie in Mölln ermordet werden, zeigt der Rechtsstaat seine ganze Kraft bei der Verhaftung demonstrierender Juden und eben bei der Verfolgung von Kommunisten. Hier fehlt es auch nicht an Beamten und Geld. Das alles hatten wir schon einmal.
    Resümiert man den politischen Gehalt dieses Prozesses, so stellt er sich als Fortsetzung des Kalten Krieges, als Negierung des neuen Denkens dar. Er enthüllt den wahren politischen Charakter dieser Bundesrepublik. Die Anklage, die Haftbefehle und der Beschluss des Gerichts über die Zulassung der Anklage sind geprägt vom Geist des Kalten Krieges. Die Präjudizien zu den Gerichtsentscheidungen gehen auf das Jahr 1964 zurück. Die Welt hat sich seitdem geändert, aber die deutsche Justiz führt politische Prozesse, als regiere noch Wilhelm II. Sie hat die vorübergehende politische ›Schwäche‹, die sie nach 1968 überfiel, wieder überwunden und ihre alte antikommunistische Hochform wieder gewonnen. Uns schalt man ›Betonköpfe‹ und warf uns Reformunfähigkeit vor.
    In diesem Prozess wird demonstriert, wo die Betonköpfe herrschen, und wer reformunfähig ist. Nach außen ist man zwar äußerst geschmeidig, wird Gorbatschow die Ehrenbürgerwürde von Berlin verliehen, wird gnädig verziehen, dass er einst die sogenannten Mauerschützen durch einen Eintrag in ihr Ehrenbuch belobigte 213 , aber nach innen ist man ›hart wie Kruppstahl‹. Den einstigen Verbündeten von Gorbatschow gewährt man demgegenüber weder Recht noch Gnade.
    Gorbatschow und ich gehörten beide der kommunistischen Weltbewegung an. Es ist bekannt, dass wir in einigen wesentlichen Punkten verschiedener Meinung waren. Doch unsere Differenzen waren aus meiner damaligen Sicht geringer als unsere Gemeinsamkeiten. Ich hoffe, dass das noch heute so ist. Mich hat der Bundeskanzler nicht mit Goebbels verglichen 214 , und ich hätte ihm das auch nicht verziehen. Weder für den Bundeskanzler noch für Gorbatschow ist dieses Strafverfahren ein Hindernis für ihre Duzfreundschaft. Auch das ist kennzeichnend.
    Ich bin am Ende.
    Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« 215

2. Januar 1993
    Nach langer Unterbrechung setze ich meine Aufzeichnungen fort. Nicht etwa deshalb, weil das neue Jahr begonnen hat – nein, einfach auf Grund von Ereignissen, die mich anregen, meine im Juli 1992 begonnene Niederschrift an Dich, meine liebe Margot, fortzusetzen.
    Würde ich alles, was mich heute bewegt, aufschreiben, ich käme nicht mit drei dieser Blöcke aus. Also muss ich versuchen, das Wichtigste zu Papier zu bringen. Dazu hat mich Herr Becker, der mich heute für 45 Minuten besuchte, angeregt, ohne dass er
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