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Letzte Aufzeichnungen

Letzte Aufzeichnungen

Titel: Letzte Aufzeichnungen
Autoren: Erich Honecker
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Hauptlast der politischen Verantwortung dafür, dass auf denjenigen, der die Grenze zwischen der DDR und der BRD, zwischen Warschauer Vertrag und NATO, ohne Genehmigung überschreiten wollte, unter den Bedingungen der Schusswaffengebrauchsbestimmung geschossen wurde. Das ist sicher eine schwere Verantwortung. Ich werde später noch darlegen, warum ich sie auf mich genommen habe. Hier, bei der Bestimmung des politischen Ziels dieses Prozesses, komme ich jedoch nicht umhin, auch festzustellen, mit welchen Mitteln das Prozessziel ›Verunglimpfung der DDR‹ erreicht werden soll. Dieses Mittel sind die Toten an der Mauer. Sie sollen und werden diesen Prozess wie schon vorangegangene Prozesse medienwirksam gestalten. Wir und vor allem Sie haben bereits erlebt, wie ohne Rücksicht auf Pietät und Anstand die Bilder der Toten vermarktet wurden. Damit soll Politik gemacht und Stimmung erzeugt werden. Jeder Tote wird so gebraucht, richtiger missbraucht, im Kampf der Unternehmer um den Erhalt ihres kapitalistischen Eigentums.
    Denn um nichts anderes geht es bei dem Kampf gegen den Sozialismus.
    Die Toten sollen die Unmenschlichkeit der DDR und des Sozialismus beweisen und von der Misere der Gegenwart und den Opfern der sozialen Marktwirtschaft ablenken. Das alles geschieht demokratisch, rechtsstaatlich, christlich, human und zum Wohle des deutschen Volkes. Armes Deutschland.
    Nun zur Sache selbst.
    Die Staatsanwälte der Frontstadt klagen uns als gemeine Kriminelle, als Totschläger an. Da wir nun offensichtlich keinen der 68 Menschen, deren Tod uns in der Anklage vorgeworfen wird, persönlich totgeschlagen haben, da wir auch deren Tötung ebenso offensichtlich nicht vorher befohlen oder sonst veranlasst haben, wirft mir die Anklage auf Seite 9 wörtlich vor: ›als Sekretär des NVR und Sekretär für Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee der SED (angeordnet zu haben), die Grenzanlagen um Berlin (West) und die Sperranlagen zur Bundesrepublik Deutschland auszubauen, um ein Passieren unmöglich zu machen‹.
    Ferner wirft mir die Anklage vor, in 17 Sitzungen des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 29. November 1961 bis 1. Juli 1983 an Beschlüssen teilgenommen zu haben,
    – weitere Drahtminensperren zu errichten (wobei das Wort ›weitere‹ erkennen lässt, dass die Streitkräfte der UdSSR vorher schon solche Sperren errichtet hatten),
    – das Grenzsicherungssystem zu verbessern, die Schießausbildung der Grenzsoldaten zu verbessern,
    – Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen,
    – am 3. Mai 1974 persönlich erklärt zu haben, von der Schusswaffe muss rücksichtslos Gebrauch gemacht werden,
    – und dem Entwurf des am 1. Mai 1982 in Kraft getretenen Grenzgesetzes zugestimmt zu haben.
    Die Vorwürfe gegen mich bzw. gegen uns richten sich also gegen Beschlüsse eines verfassungsmäßigen Organs der DDR. Gegenstand des Verfahrens ist somit die Politik der DDR, das Bemühen des Nationalen Verteidigungsrates, die DDR als Staat zu verteidigen und zu erhalten. Diese Politik soll durch dieses Verfahren kriminalisiert werden. Damit soll die DDR als ›Unrechtsstaat‹ gebrandmarkt und alle, die ihr dienten, zu Verbrechern gestempelt werden.
    Die Verfolgung von Zehntausenden und unter Umständen Hunderttausenden DDR-Bürgern, von denen die Staatsanwaltschaft jetzt schon spricht, ist das Ziel dieses Verfahrens, das durch ›Pilotverfahren‹ gegen Grenzsoldaten vorbereitet sowie von unzähligen, die DDR-Bürger diskriminierenden anderen Gerichtsverfahren vor Zivil-, Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsgerichten und von zahlreichen Verwaltungsakten begleitet wird. Es geht also nicht um mich oder um uns, die wir in diesem Prozess angeklagt sind. Es geht um viel mehr. Es geht um die Zukunft Deutschlands, Europas, ja der Welt, die mit der Beendigung des Kalten Krieges, mit dem neuen Denken so glücklich zu beginnen schien.
    Hier wird nicht nur der Kalte Krieg fortgesetzt, hier soll ein Grundstein für ein Europa der Reichen gelegt werden. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit soll wieder einmal endgültig erstickt werden. Unsere Brandmarkung als Totschläger soll dazu ein Mittel sein.
    Ich bin der Letzte, der gegen sittliche und rechtliche Maßstäbe zur Be- oder auch Verurteilung von Politikern ist. Nur müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Maßstäbe müssen exakt vorher formuliert sein. Sie müssen für alle Politiker gleichermaßen gelten. Ein überparteiliches Gericht, das weder mit Freunden noch Feinden der Angeklagten
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