Letzte Aufzeichnungen
gesehen, dass die Sowjetmacht zerfällt, die kleine DDR konnte die Entwicklung nicht aufhalten. Sie sollte zum Blutspender für einen Patienten werden, bei dem andere bereits die Todesspritze angesetzt hatten. 164
Ich sehe durchaus Möglichkeiten, die Konterrevolution in Deutschland an einem totalen Durchmarsch zu hindern. Es gibt eine sozialistische Basis im Denken vieler Menschen. Wir haben mit der DDR gezeigt, dass Sozialismus möglich ist. Das wird bleiben.
1973: Herbert Wehner (l.), Vorsitzender der SPD-Fraktion,
und Wolfgang Mischnick, FDP-Fraktionschef im Bundestag,
bei Honecker. Wehner anschließend vor der Fraktion: »Ich
habe mit einem gestandenen Mann gesprochen.«
Das Wohnungsproblem als soziale Frage wäre 1990/91 gelöst gewesen. Arbeitsstellen gab es für alle. Die medizinische Betreuung war gut, die Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen auf dem besten Weg … Es gab kein sozialistisches Land, das so vorwärtskam – trotz der hohen Tributzahlungen an die Sowjetunion – ein Rubel wurde bis 1981 mit 14 Mark verrechnet, 1989 betrug der Koeffizient ein Rubel zu 7 bis 12 Mark. Ein sowjetischer General bei der GSSD bekam bis 1.000 Rubel im Monat, er kostete uns also 7.000 bis 12.000 Mark. Ein Minister der DDR erhielt nur 3.500 Mark. Gegen die Stationierungskosten konnte man nichts sagen. Gorbatschow setzte sie nicht herunter. Im Gegenteil.
Mit der Wismut 165 hat die DDR 30 bis 50 Milliarden Verlust gemacht. Die Eisenbahn blutete durch die Demontage des zweiten Gleises. Die Umstellung der Produktion zur Bedienung der Reparationsforderungen kostete Unsummen. 166
Irgendwie haben wir uns mit Chruschtschow, Breshnew, Andropow und Tschernenko immer einigen können. Mit den Verrätern der Sowjetmacht ging es nicht. Sie haben sich an den Westen verkauft.
Ich sage: Ruhm und Ehre den Befreiern Europas aus der faschistischen Barbarei. Ohne die Sowjetvölker und ihre Rote Armee, ohne Stalin wäre die Welt in der Tyrannei der Hitlerbanden zugrunde gegangen. Das ist das eine, das andere ist der Umgang mit uns.
Heute ist es klar: Ohne den Marxismus wäre die Welt ärmer. Er bietet einen Ausweg aus der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Ich will nicht auf China verweisen. Was sich dort gegenwärtig vollzieht, ist in vielem unklar. Wohin die Entwicklung gehen wird, wissen die Chinesen vielleicht nicht einmal selbst. Aber es sieht so aus, als bleiben sie bei Marx.
Gestern hat Gorbatschow Berlin mit seiner Anwesenheit beglückt. Von seinem Auftreten im Reichstag habe ich nicht viel mitbekommen. Erst recht nicht, ob ihn jemand gefragt hat, warum er die DDR und Honecker an den Westen ausgeliefert hat. Er habe, so zur
Berliner Zeitung
, »schon immer bekannt, dass der Kommunismus keine Zukunft hat«. Härter geht es nicht mehr. Geschenkt, dass er, wie er sagte, die DDR zweimal verkaufen würde.
Die DDR hat jährlich 300.000 bis 400.000 Tonnen Kartoffeln, fein ausgesucht, geliefert, und 1985, als Leningrad hungerte, haben wir zusätzliche Mengen geliefert. Für Gorbatschow war das selbstverständlich. Er brachte es nicht fertig, sich dafür zu bedanken. Unfähig auch, dafür zu sorgen, dass in der Sowjetunion ausreichend Kartoffeln und Getreide angebaut und geerntet wurden.
Nun, meine liebe Margot, ich muss jetzt aufhören zu schreiben. Ich fürchte, dass Du meine Schrift nicht lesen kannst, deshalb für heute Schluss. 167
30. November
Oberstaatsanwalt Schaefgen trug in zwanzig Minuten eine Kurzfassung der Anklageschrift vor. Es waren die bereits bekannten Lügen und Unterstellungen.
Danach wurde ich aufgefordert, mich »zur Sache« zu äußern. Ich konnte es nicht. Ich wollte auch nicht. Meine Anwälte beantragten, dass ich am nächsten Verhandlungstag die Gelegenheit bekomme, eine Persönliche Erklärung abzugeben.
Nach der Sitzung waren die drei Verteidiger bei mir.
Sie sagten, dass mit der Verlesung der Anklage die Phase der Formalitäten abgeschlossen sei. Jetzt beginne eine neue Phase der Hauptverhandlung. Sie machten besorgte Gesichter.
Rechtsanwalt Wolff sagte jedoch, er rechne täglich mit der Einstellung des Verfahrens aus gesundheitlichen Gründen.
3. Dezember
Der Beginn des sechsten Prozesstages ist wie immer. Meine Anwälte stellen Anträge, sie werden abgelehnt wie die anderen, die sie schon früher gestellt hatten. Das übliche Gezerre. Dann erteilt mir Bräutigam das Wort.
Ich bin konzentriert wie selten. Spüre keine Schmerzen, keine Schwäche.
»Meine Damen und Herren,
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