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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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und von der Toilette in den Tank, bei jedem Zug zum Steinerweichen kreischt. Mit hundertfünfzig herausgeputzten Teenagern, schätzungsweise einem Viertel der Bevölkerung, die ausgerechnet hier ihr Abitur zu feiern haben, gestatten wir uns einen nightcap im nahen Hotel. Den Laden für die Mütter haben wir schon unterwegs gesehen: Margaret Partingtons Hutverleih, bekannt in der Welt, doch zu Hause in Datchet. Am Morgen dann erwachen wir neben »Lady Sophia« im schlecht gemachten Bett aus weißem Bio-Schaum, tänzelndem Abfall und den ungezählten gelben Blättern einer Weide.
    »Dead Slow« steht an der alten Windsor Bridge von 1824. Das passt: Die gusseisernen Bögen rissen uns, buchstäblich um ein Haar, den Scheitel ab, wenn wir denn einen hätten. Auch die Brücke hat schon Schläge abbekommen. 1969 fand man Risse, am 10. April 1970, um vier Uhr nachmittags, fuhr das letzte Auto hinüber. Seither geht man von Windsor nach Eton zu Fuß – oder nimmt die Autobahn. In den Alexandra Gardens nah dem Ufer dreht sich ein Riesenrad mit Namen »Royal Windsor Wheel«. Vier weiße Schwäne halten themseabwärts auf uns zu, im Tiefflug, flügelklatschend, um gleich hinter uns mit nackten Latschen bei den anderen zu landen. Die Schwäne nah dem Windsor-Ufer wirken zahllos und werden dennoch jedes Jahr im Juli gezählt, gewogen und geprüft, als Eigentum der Queen. Das sind sie seit Jahrhunderten, als man noch Schwäne aß. Seit 1186 ist das sogenannte »Swan Upping« schriftlich belegt, tatsächlich ist es wohl weit älter; und in eleganten hölzernen Booten und mit alten, bunten Uniformen ist es jedes Jahr ein gesellschaftliches Ereignis auf der Themse. Den Schwänen sind die alten Sitten piepegal, »hold«, wie Hölderlin sie nannte, sind sie bei Weitem nicht. Zwar tunken sie das Haupt ins Wasser, »heilignüchtern« oder nicht, doch nur auf der Suche nach Fressen. Sie betteln lautlos, aber sichtlich jeden an, der stehen bleibt, und verspielen ohne Hemmung jenes würdevolle Bild, das man sich von ihnen macht. Und heimlich himmeln sie Columbus an, der Amerika entdeckt hat und den Truthahn, der ausgewachsen besser schmeckt als sie, vor allem nicht so tranig.
    Pünktlich um elf sind wir oben am Schloss. Am Denkmal für Victoria sind alle Bürgersteige schon besetzt, eine junge Polizistin in gelber Weste sorgt mit Stimmaufwand dafür, dass alles an der Bordsteinkante bleibt, dieweil die eigentlichen Sicherheitskräfte in gemischten Pullovern die Menge unauffällig inspizieren und Sprengstoffhunde vor der ersten Reihe patrouillieren. Dann die Musik und rote goldbetresste Uniformen an aufgetürmtem Bärenfell: Englands Größe kommt im Gleichschritt die Straße herauf, um die Ecke herum, und verschwindet durch das Tor zur Wachablösung, wo wieder zahllose Besucher stehen, um das Platzkonzert zu knipsen.
    Unten ist der Fluss nun schon belebt. Es ist Sonnabend, die Jungs von Eton rudern zum Training der Themse entgegen, Familien in narrowboats , den langen, schmalen Transportern der Kanalschifffahrt, fahren ins Wochenende, ein altes Ehepaar mit eigenem Salat und allen Gewürzen des Gartens in Töpfen an Deck, gleitet gelassen vorüber. An den wenigen Schleusen des Nachmittags sitzen Ausflügler und schauen uns beim Manövrieren zu. Kleine Kinder winken, die Schleusenwärter haben alle Hände voll zu tun. Hier hat sich seit Jerome wohl nur wenig geändert. Das Tal der Themse ist eine Domäne der Männer. Die vierzehn Schleusenwärter, denen wir in diesen Tagen vor die Hütte kommen, sind allesamt Männer, freundlich, gut gelaunt, von solchem Sachverstand, dass sie das Schleusen wohl auch mit verbundenen Augen erledigen könnten. Einer hat tatsächlich eine schwarze Klappe vor dem linken Auge und schaut mit weißem Bart zum weißen Hemd und rotem Rettungskragen freundlich drein. Sie alle kennen ihr Revier. Der Wärter an der Bray-Schleuse runzelt die Stirn, als wir auf seine Frage nach dem Liegeplatz für heute »Maidenhead« entgegnen: »Aber man kann da immerhin gut essen.«
    Wir essen gut in Maidenhead. Das Städtchen mit den Jungfrauen im Namen kehrt dem Fluss aus Gründen, die nicht klar erkennbar sind, den Rücken zu: nur Werften und Reparaturbetriebe, zwei Gasthäuser, die beide nach der Themse heißen. Der eigentliche Ort liegt eine öde Meile abseits und bietet auch nicht viel. Die Zeiten Jeromes, da es in den zahlreichen Hotels von »Lebemännern und Balletteusen« wimmelte, sind offenbar vorbei. Dabei hat die
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