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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag
Autoren: Klaus Brill
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verkommen ist zu einem traurigen, schmutzigen, lauten Boulevard. Vor allem nachts, wenn eine solche Stadt auf einem solchen Platz all ihre Vitalität und Fantasie nach außen kehren, all ihre Einwohner und Gäste mit Energien für den nächsten Tag aufladen könnte, dann regiert hier neonfarben die vom kleinen Profit gesteuerte Tristesse.
    Es ist nicht viel Betrieb an diesem Abend, der Wind weht eine leere Plastiktüte übers Pflaster, aus einer Discohöhle dröhnt stampfender Stumpfsinn an die Außenwelt. Prostituierte stehen beisammen und halten Ausschau, auch Taxis lauern, und eine Gruppe biergeschwächter Schotten im karierten Tartan-Rock ist noch auf Abenteuer aus. Allenthalben fallen Afrikaner auf, die mit fliehendem Auge etwas zu kontrollieren scheinen. In einem Kastenwagen sitzen Polizisten und überschauen den Platz.
    Blumen stehen in Beton. Kein Ort der Schönheit, dieser Wenzelsplatz bei Nacht. Was hier auf siebenhundertfünfzig mal sechzig Metern im Geviert so sehenswert ist an Baukunstwerken aus der Zeit des Jugendstils, mehrere Hotels und Geschäftshäuser zum Beispiel, geht unter im Überangebot verhunzter Fassaden und im grellen Glast der Lichtreklamen von Bierhäusern, Kasinos, Kinos oder Weltfirmen, die hier ihre Niederlassungen haben. Prager gehen hier nicht häufig hin, höchstens am Tag, zum Einkaufen und zur Arbeit in den umliegenden Büros.
    So soll es nicht bleiben, da ist sich die zuständige Kommunalbehörde einig mit jenen Bürgern, darunter zahlreiche Immobilieneigentümer und Unternehmer, die ihren Protest gegen die Verwahrlosung des urbanen Zentrums in zwei Vereinen artikulieren. Abhilfe naht nun in Gestalt eines Architektenwettbewerbs, den der zuständige Stadtbezirk Prag 1 veranstaltete und der ein reges Interesse fand. Vladimir Vihan, der bürgerlich-konservative Bürgermeister des ersten Stadtbezirks, erklärte, wie er sich die Sache vorstellt: Die dreihundert Parkplätze sollen verschwinden, nur Behinderte und Zulieferer dürfen künftig länger halten. Ansonsten lautet die Vorgabe: mehr Platz zum Wandeln, mehr Bänke und Bäume, weniger fettschwadige Wurstbuden und Verkaufsstände für Billigkram. Reklametafeln, Abfalleimer und vielleicht auch die vierzehn Rotlicht-Clubs im Umfeld sollen neu verteilt werden.
    Mehr Stil also, mehr Würde, es geht hier schließlich um den Wenzelsplatz, den die Tschechen Václavské náměstí und im Hausgebrauch den Václavák nennen. Ein Ort, auf dem sich wichtige Ereignisse ihrer Geschichte vollzogen haben, meist dann, wenn es das Volk für nötig hielt, politisch aktiv zu werden: 1848 gegen das Habsburger Regime, 1918 für die neue tschechoslowakische Republik, 1968 gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, schließlich 1989, um den Kommunismus zu beenden; Václav Havel und Alexander Dubček sprachen damals hier vor Hunderttausenden.
    1848 erhielt der seinerzeit schon fünfhundert Jahre lang bestehende Rossmarkt den Namen Wenzelsplatz, 1912 wurde am oberen Ende die Reiterstatue des Nationalheiligen Wenzel, gefertigt von Josef Václav Myslbeck, errichtet. Seither war dies ein Ort für Rendezvous »unter dem Schweif«, wie die Prager sagen. Zudem ist dieser Wenzelsplatz so sehr ein Schauplatz symbolischer Selbstvergewisserung, dass man in Archiven sicher unzählige Fotos findet, die den Gang der tschechischen Geschichte aus der Perspektive dieses Monumentes zeigen, mit Wenzel und dem Gaul im Vordergrund.
    Václav, der Reiter, wurde vor einiger Zeit restauriert, er war in graue Gaze gehüllt. Und wenn die Wünsche der Bürgerinitiativen und vieler anderer Prager in Erfüllung gehen, dann wird in einigen Jahren auch noch die sechsspurige Stadtautobahn verschwinden, die das Denkmal vom Nationalmuseum trennt und die seit rund dreißig Jahren als Nord-Süd-Magistrale täglich eine Unmenge Autos am Wenzelsplatz vorbeischleust. 2010 waren es an die Hunderttausend täglich, sie sollen ihren Weg durch einen unterirdischen Tunnel nehmen, den die Stadt Prag und die tschechische Regierung in der Nähe bauen wollen. Auch das indessen ist nicht unumstritten. Auch die Wiederkehr der Tram und der Bau von Tiefgaragen sind in der Diskussion, eine endgültige Lösung wird wohl noch eine Zeit lang brauchen. Falls nicht das Volk zuvor dagegen demonstriert, dass dies jetzt alles schon viel zu lange dauert. Wo diese Kundgebung stattfinden könnte, ist leicht zu erraten.

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