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Lesereise Mallorca

Lesereise Mallorca

Titel: Lesereise Mallorca
Autoren: Helge Sobik
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Inselwesten – zuständig für die teils unbemannten Türme an den Küsten des Tramuntana-Gebirges, für Leuchtbojen vor der Steilküste, für Lichtsignale auf den Klippen. Er war der Mann, der die Sonne auf Mallorca als Letzter untergehen sah. Jetzt sind all diese Feuer automatisiert, ein Leuchtturmwärter wird hier nicht mehr gebraucht. Aber Bernat Reus hat noch die Schlüssel – und schaut ab und zu ganz privat an den alten Arbeitsstätten vorbei. Im richtigen Moment natürlich. Weil der Sonnenuntergang so schön ist und er sich davon nicht trennen kann. Vor allem nahe von Sa Mola, am westlichsten Leuchtfeuer der Insel.
    Zwischen diesen beiden Männern liegt alles, was Mallorca ausmacht – geografisch der zersiedelte Osten, die beiden Großstädte Manacor und Palma, die Oliven- und Mandelhaine der Gegend von Felanitx und Llucmajor, Berge und Jachthäfen, Ferienhotels und Bauernhäuser, viele Villen und ein paar einfache Schäferkaten. Zeitlich liegt ein Urlaubstag mit allen seinen Möglichkeiten zwischen Joan und Bernat: mit Sonnenbaden in Es Trenc, Saufen in El Arenal, Schaulaufen in Puerto Portals, mit Wandern oder Radfahren, mit kulinarischen Genüssen oder gepflegtem Nichtstun. Oder hundertelei anderen Ausprägungen. Ganz nach Geschmack, nach Wunsch, nach Fügung.
    Die beiden bekommen so oder so wenig davon mit, interessieren sich nicht mal dafür. Ihnen sind die Urlauber willkommen, aber deren Alltag überschneidet sich nicht mit ihrem. Sie begegnen einander allenfalls von Weitem. Die Fremden essen den einen oder anderen Fisch, den Fuster gefangen hat. Ihre Kreuzfahrtschiffe navigieren mit Hilfe der Türme, die Bernat Reus gewartet hat. Aber das Denken und Handeln der beiden bestimmen die Mallorquiner auf Zeit nicht, weil sie in ihrem Berufsalltag keine Rolle spielen.
    Ein bisschen sind die Leben der beiden Männer auch Beweis dafür, dass diese Insel nicht nur den Tourismus kennt. Mallorca ist größer als diejenigen ahnen, die noch nie dort waren – und bietet aller Bauwut, allem Fremdenverkehrsboom zum Trotz noch immer Freiraum für den ganz normalen Inselalltag. Und für so viele Einzelschicksale wie es Einwohner gibt. Es mag Siedlungen vom Reißbrett geben – aber keine Leben, die in Schablonen passen.
    Reus zum Beispiel verschlug es nur durch Zufall in diesen Job, den loszulassen ihm so schwer fällt. In seinem eigentlichen Beruf wurde seinerzeit Ende der sechziger Jahre in Spanien kaum noch einer eingestellt, und viele Studenten mussten umschulen, kaum dass sie ihr Diplom in den Händen hielten. Bernat Reus hatte Geschichte studiert, drüben auf dem Festland in Katalonien, wollte Lehrer werden wie seine Frau. Stattdessen wurden beide in Lehrgängen zu Leuchtturmwärtern ausgebildet und sind seit 1968 verbeamtet.
    »Ach«, fasst Reus den Beruf zusammen, der für ihn mal nur zweite Wahl gewesen war und dann doch zur Lebensaufgabe wurde: »Der Reiz liegt darin, dass der Leuchtturmwärter-Job eigentlich viel weniger eine Arbeit und viel mehr eine Lebensweise ist. Alle müssen an einem Strang ziehen, es gibt viel Freizeit und keinen festen Zeitplan. Gearbeitet werden muss zu jeder Tages- und Nachtzeit immer sofort – aber nur dann, wenn etwas kaputt gegangen ist. Du musst immer zur Stelle, kannst nie weg sein, weil immer etwas passieren kann. Und du lebst meistens abseits. Außerhalb. Entlegen. Hier auf der Insel weniger extrem als auf dem Festland, wo wir anfangs gearbeitet hatten. Es gibt wenig Geld dafür, aber viel Wohlgefühl und schließt die ganze Familie ein. Alles in allem ist es so: Du musst zwar immer greifbar sein, hast aber wenig zu tun.« Er hat all das schätzen gelernt. »Jeder Moment«, sagt er heute, »ist unfassbar schön, wenn man aufs Meer hinausschauen kann – und der Sonne beim Versinken zusieht.«
    Ob er dann manchmal daran gedacht hat, dass weit in seinem Rücken bereits die Lichter der Kneipen an der Bucht von Palma angegangen sind, die Musik aus den Boxen bis auf die Straße dudelt und die Ersten drinnen zu tanzen beginnen? Hat er nicht. Nicht hier, nicht in diesem Beruf, nicht bei dieser Aussicht. Genauso wenig wie an das, was geradeaus in Blickrichtung hinter dem Meer irgendwann kommt und doch für ihn unsichtbar ist. »Du lernst die Fähigkeit lieben, nichts zu tun und dabei kein schlechtes Gewissen zu haben«, philosophiert er und zupft die Strickjacke zurecht. »Du lernst als Leuchtturmwärter, von allem in einer ungeahnten Weise loszulassen. Das können sich viele gar
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