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Lesereise - Israel

Lesereise - Israel

Titel: Lesereise - Israel
Autoren: Gil Yaron
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auf Russisch ihre Bestellung aufgibt. In der Konditorei nebenan verkauft Vicki Piroschki oder Pitschenia, süße Teigröllchen mit Walnussfüllung, die sie vorher sorgfältig mit Puderzucker bestäubt. Der Feinkostladen auf der anderen Seite bietet seinen Kunden Schweinefleisch, russische Butter und Wodka. Auf der Theke liegen Schokoriegel, die in funkelndes Silberpapier gehüllt sind. Die kyrillischen Buchstaben auf der Verpackung verheißen russische Kirschen im süßen Kern.
    Willkommen in Israels wichtigster Hafenstadt Aschdod. Nur Geografen würden behaupten, dass die Küstenstadt vierzig Kilometer südlich von Tel Aviv in Israel liegt. Kulturell befindet sich Aschdod fest in russischer Hand. Als die Rockgruppe Bivda aus Russland hier auf Tournee war, füllten Hunderte Jugendliche einen Club und grölten fröhlich die neuen Schlager mit. Unweit tanzen ältere Paare zu gediegener Musik Walzer und Rumba. »Die Russen haben sich hier besser eingelebt als in jedem anderen Land der Welt«, sagt Wladimir Gerschow, lange Zeit der Verantwortliche für die Aufnahme der Neueinwanderer und zehn Jahre lang stellvertretender Bürgermeister Aschdods. Für ihn ist seine Stadt Symbol für die erfolgreiche Integration seiner Landsleute.
    Mehr als eine Million Menschen wanderten nach dem Mauerfall aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel aus. Ein liberales Einwanderungsgesetz, das »Rückkehrrecht«, gewährt jedem Nachkommen eines Juden bis zur dritten Generation samt seinem Partner umgehend die israelische Staatsbürgerschaft. Der Staat verleiht großzügige Hilfen, um den Umzug zu erleichtern. »Die russischen Einwanderer haben unser Land gerettet und sind eines der größten Wunder, die unserem Staat widerfahren sind«, sagt Premierminister Benjamin Netanjahu. Jeder siebte Staatsbürger Israels und jeder fünfte Soldat stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Eingewanderte Leistungssportler vertreten Israel in internationalen Wettkämpfen. Alex Averbuch wurde in Sibirien geboren, jetzt erringt er für Israel Goldmedaillen im Stabhochsprung.
    Die »Russen«, wie man alle Einwanderer aus den GUS -Staaten bezeichnet, waren gebildet, siebzig Prozent besaßen einen Hochschulabschluss. So bescherte die Aliyah , wie Einwanderungswellen in Israel genannt werden, dem Land dreiundzwanzigtausend Ärzte, fünfundzwanzigtausend Krankenschwestern, hundertachttausend Ingenieure, einundzwanzigtausend Künstler und fünfzigtausend Lehrer. Jeder vierte Dozent an Israels Universitäten stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, in den Naturwissenschaften sogar noch mehr. In der Ben-Gurion-Universität in Beer Scheva sind mehr als sechzig Prozent der Fakultät für Mathematik Einwanderer. Die Zahl der in Israel veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten hat sich seit 1991 fast verdoppelt. Auch in Kunst und Kultur war ihr Beitrag enorm: Aschdods andalusisches Orchester spielt zwar hauptsächlich orientalische Musik, zwei Drittel der Musiker stammten aber aus den GUS -Staaten.
    In der Politik ist der Einfluss der Einwanderer deutlicher spürbar als in der Kultur. Sie beteiligen sich in hohen Prozentzahlen an den Wahlen und lösen damit einen Rechtsruck aus. »Die Russen brachten eine für Israel einzigartige Mischung mit: Sie sind einerseits nationalistisch, gleichzeitig aber auch sehr antireligiös«, sagt Lia Shemtov, die selber der nationalistischen, antireligiösen Partei des amtierenden Außenministers Avigdor Liebermann angehört. »Wir kamen aus einem riesigen Land«, sagt Gerschow. »Was sind die Golanhöhen im Vergleich zum Ural? Ein klitzekleines Stückchen Land. Wir Russen haben aus der Geschichte gelernt. Genau wie Deutschland niemals Königsberg zurückbekommen wird, so werden auch die Araber nichts zurückerhalten.« Längst haben auch viele Israelis diese Einstellung übernommen. Ein Drittel der Wähler Liebermanns sind alteingesessene Israelis. »Ich bin mir sicher, dass heutzutage ein Russe sogar zum Premierminister gewählt werden könnte«, so Gerschow.
    Die Integration dieser gewaltigen Menschenmasse verlief nicht ohne Spannungen. »Israel war gut auf eine Masseneinwanderung vorbereitet. Aber man rechnete mit hunderttausend Menschen, nicht mit einer Million«, sagt Shemtov, die als Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Immigration amtiert. Aschdod wurde dabei zum Paradebeispiel. In wenigen Jahren schwoll die Stadtbevölkerung von achtzigtausend auf heute zweihundertzehntausend an. Die Hafenstadt nahm die größte
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