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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest
Autoren: Susanne Schaber
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Bausubstanz. Parallel dazu hat man die Überreste der tragenden Mauern des Domes gestützt, um ihn nicht vollends dem Verfall preiszugeben. Und nun?
    Kommissionen tagen. Soll man den Dom ganz niederreißen und eine moderne Kirche an seinen Platz stellen oder die Ruine als museales Denkmal konservieren? Beide Vorschläge werden diskutiert und verworfen. Die Menschen von Venzone stehen zusammen wie selten zuvor und setzen sich in einer Volksbefragung durch: Ihre Stadt ohne den Dom? Unvorstellbar. Sant’Andrea muss wieder aufgebaut werden. »Eine Sonnenuhr ohne Schattenstab ist eine Fläche, auf der rätselhafte Ziffern erscheinen«, so beschreibt die Kunsthistorikerin Isabella Vay die damalige Stimmung in Venzone. »Ein Schattenstab ohne Maßeinteilung ist ein Stab, der seinen Schatten ohne jeden Sinn wirft. Nur in dem besonderen Zusammenhang von Maßeinteilung und Schattenstab wird die Bedeutung der Mittagslinie geboren.«
    Die Planungen für den Wiederaufbau beginnen, aus ganz Europa kommt Hilfe: Geld, Wissen, Arbeitsleistung. Dank der neuartigen Anastilose-Methode, die ursprünglich für die Rekonstruktion antiker Gebäude entwickelt worden ist, gelingt es, einen Entwurf für eine möglichst originalgetreue Wiederherstellung des Doms anzufertigen: Jeder der achttausend Steine soll wieder an seinen Platz kommen. Es dauert zwölf Jahre, ehe die Arbeiten wirklich beginnen können, und weitere sieben Jahre, bis der Dom am 6. August 1995 feierlich wiedereröffnet wird. Ein triumphaler Tag für den ganzen Ort.
    Sant’Andrea zeigt sich heute in neuem Glanz, ohne poliert zu wirken. Wie eh und je thront der Dom am Rand der Stadt. Venzone hat nicht verloren, wie es scheint, es ist nicht zur Filmkulisse verkommen, sondern ein lebendiger kleiner Ort geblieben. Im Caffè Vecchio lehnen die Arbeiter am Tresen und trinken ihren espresso , bevor sie nach dem Mittagessen ans Tagwerk zurückkehren. In den gepflasterten Innenhöfen der gotischen Paläste wird Fußball gespielt, Kinder kurven mit ihren Fahrrädern durch die engen Gassen. Im Rathaus bereitet man die festa della zucca vor, das alljährliche Kürbisfest mit der Kür des größten Kürbisses, einem Fackelzug und dem Verkosten vielfältigster Gerichte: tortelli di zucca, zuppa di zucca, gnocchi di zucca, torta di zucca.
    Auf den ersten Blick scheint wenig an die Schrecken des Jahres 1976 zu erinnern – nur die Fotoausstellung in der Loggia des Palazzo Comunale und die Ruine der Kirche San Giovanni, mitten im Stadtzentrum. An ihr kommt man Tag für Tag vorbei. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt die Spuren der Erdbeben in vielen Details: Kleine Ziffern auf dem Mauerwerk der Häuser und palazzi lassen daran denken, mit welcher Mühe die Häuser rekonstruiert wurden. Am Dom zieht sich eine Bruchlinie durch die Teile der alten und der neuen Bausubstanz. Man hat sie mit einem schmalen Bleiband markiert. Narben sollen sichtbar bleiben, auch für Kinder- und Kindeskinder.
    Das Friaul hat in den Jahren nach den großen Beben an Zuversicht gewonnen. Es steht mit beiden Beinen am Boden – was auch immer der noch vorhaben mag. Eine Wohltat sei das Erdbeben in Chili gewesen, heißt es in Heinrich von Kleists gleichnamiger Erzählung etwas euphemistisch. »Und in der Tat schien, mitten in diesen grässlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zugrunde gingen und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehen.«
    Chile, 1647 – Friaul, 1976. Ein Ozean und die Jahrhunderte liegen zwischen den Ländern und Jahreszahlen. Die Erfahrung der Menschen ist die gleiche geblieben. Die Erdplatten verschieben sich weiter. Mit Ruhe ist nicht zu rechnen.

Bei den vierzehn Engeln
Himmelwärts: Sauris, das höchste Dorf des Friaul
    »Hideaways« nennt man sie heute, Plätze zum Abtauchen und Verschwinden. Verborgene Orte, von denen kaum jemand weiß, Fluchtpunkte. Auch Sauris könnte als Schlupfwinkel durchgehen, das höchst gelegene Dorf des Friaul, auf tausenddreihundert Metern Höhe. Weit oben in den Karnischen Alpen, weit weg von der Welt. Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts war Sauris oder die Zahre, wie das Dorf auch heißt, nur auf Saumpfaden zu erreichen. Zehn Stunden dauerte es, um von Ampezzo im Val Tagliamento nach oben zu steigen. Entsprechend selten kamen die Bergbauern von Sauris ins Tal. Man blieb für sich. Der Friedhof in Sauris di Sopra weiß davon zu erzählen: Plozzer, Petris, Minigher,
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