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Lesereise Backsteinstaedte

Lesereise Backsteinstaedte

Titel: Lesereise Backsteinstaedte
Autoren: Kristine Soden
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Glockengebälk, wohin die heutigen »Turmwächter« Besuchergruppen führen und vom geschäftigen Treiben im Hafen, als die gotischen Backsteinriesen gerade aufgetürmt worden waren, erzählen. Auf Koggen, dem damals neuen, fassungsstarken bauchigen Schiff mit geschlossenem Deck, wurden Heringe vom dänischen Schonen, Stockfische aus dem norwegischen Bergen, Tuche aus Brügge, Wolle aus London, Felle aus Nowgorod, Holz, Steine und Kalk von der Insel Gotland importiert. Umgekehrt wurden Getreide, Mehl, Lüneburger Salz und das berühmte Wismarer Bier nach Holland, nach Riga, nach Portugal exportiert. Nachts schlossen Bohmschlüter (Baumschließer) den Wismarer Hafen zur Sicherheit mit einem Schlagbaum ab. Das dazugehörige Gemäuer aus dem frühen 18. Jahrhundert, bis heute »Baumhaus« genannt, fällt vom St. Marien-Turm wie ein roter Klecks in der Hafenkulisse sofort auf. In unmittelbarer Nachbarschaft alte Speicher, einige stehen seit einer Weile zum Verkauf. Im Vordergrund der Ziegelkoloss St. Nikolai, die Kirche der Fischer und Seefahrer – sie birgt in ihrem Inneren die steilste Geschlossenheit im ganzen Ostseeraum. Bei den Luftangriffen 1945 kam St. Nikolai unversehrt davon.
    Der Tonfall der großen Ziegelgotik habe etwas Heroisches, schrieb einmal Theodor Heuss. Der erste deutsche Bundespräsident, Heimatforscher im besten Sinne, war mit Stift und Feder durch Mecklenburg gereist, in die Hansestadt Wismar, welche einst zu den führenden Umschlagplätzen Europas gehört hat. In nebliger Frühe, in der durchsichtigen Mittagshelle, in der finsteren Nacht zog es den kunstsinnigen Wanderbildner zu St. Marien hin. Und er fragte sich, ob ihre Steine wohl auch plattdeutsch reden?
    Wismars Kirche aus den Gründungsjahren der Stadt war nicht baufällig, als man sie 1960 in die Luft gesprengt hat. Ihr Turm überlebte als Seezeichen. Möge er uns nun als Orientierung in den Klippen und Untiefen der Zukunft dienen. Und wer weiß, ob St. Marien nicht doch eines Tages in ihrer alten Größe wieder entsteht.

Feine Kost und Lesekunst
Zu Gast bei den Wismarer Löwenapothekerinnen
    Das Podium vor dem hohen lindgrünen alten Schrank an der violett getönten Wand füllt sich in aller Ruhe, obwohl es laut Programm schon in wenigen Minuten beginnen soll. Die Atmosphäre ist erfrischend unangepasst, leger, erinnert an Szenetreffs im Schanzenviertel in Hamburg oder in Berlin Mitte oder am Prenzlauer Berg. Auf den Fensterbänken vor den Milchglasscheiben flackern dicke weiße Kerzen. Die meisten Tische sind schon seit einer ganzen Weile besetzt. Denn der Andrang ist erfahrungsgemäß groß, wenn am ersten Sonntag im Monat in der Alten Löwenapotheke in Wismar die Lesebühne WORTREICH auftritt. Wir sitzen ziemlich weit vorn, haben »Herzhafte Serranoschinkenröllchen mit Frischkäse gefüllt« bestellt. Am Nebentisch trinkt man Störtebeker Pils, norddeutsch herb. Die Krimiautorin Birgit Hölscher-Lohmeyer, sie hat die Lesebühne initiiert, spricht mit ironischem Charme ins Mikrofon, dass man sich noch etwas gedulden möge, die musikalische Begleitung sei noch nicht da. Der Abend trägt das Thema »Tapetenwechsel«. Vielleicht hat der Erwartete auf Tapetenwechsel keine Lust, amüsiert sich ein älterer Herr hinter uns. Im selben Moment eilt ein schwarz gekleideter dynamischer, schlanker Mann an der einstigen Rezeptausgabe vorbei in den Raum. Packt sein Saxofon aus. Applaus. Die meisten kennen ihn, es ist Florian Ostrop, ein Lektor aus dem Hinstorff Verlag. Sein Buch über Zwangsarbeiter in Wismar während der NS -Zeit löste 2006 bewegende Diskussionen aus. Und viele besuchten die dazugehörige Wanderausstellung, die er mit der Rostocker Geschichtswerkstatt erarbeitet hat. Der promovierte Historiker und Saxofonist sprang für die ausgefallene musikalische Begleitung, angesagt war jemand am Keyboard, ohne lange zu überlegen ein. Wieder Applaus. Dann startet die Performance, lesen Birgit Hölscher-Lohmeyer und ihre Schreibkollegen Vera Doneck und Hartmut Lüke, sie alle kommen aus der näheren Umgebung, eigene Lyrik und Prosa zum »Tapetenwechsel« vor. Ernst, witzig oder auch nonsensartig, grotesk.
    Die Alte Löwenapotheke in der Bademutterstraße sticht aus dem Stadtbild heraus. Denn sie versteckt ihren Backstein. Zeigt sich in gelb getünchter Neurenaissance, die Fensterrahmen, Giebeleinfassungen, Türmchen cremig weiß, Farben wie eine Zitronentorte, die ein Konditormeister mit Streifen und Tuffs aus Schlagsahne dekoriert hat. Seit
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