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Lesereise - Afrika

Lesereise - Afrika

Titel: Lesereise - Afrika
Autoren: Andreas Altmann
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heute morgen seine Hütte. Ein paar Minuten vergehen, dann bemerke ich, wie Amadou von der Seite mein Gesicht durchforscht. Mit wachsender Unruhe. Ich schaue ihn an, und er hört nicht auf, mich sorgenvoll anzublicken. Ich ahne, dass etwas Aufregendes passieren wird, und unternehme nichts. Bis es aus ihm heraus muss: »Excusez-moi, Monsieur André, mais votre outil c’est pas trop, comment dirai-je, trop petit?« Das ist ein Satz, der Satzhungrige eine Woche lang ernährt. Denn ein Mann fragt einen anderen Mann, ob dessen »Werkzeug« nicht zu klein sei. Und ohne zu zögern zieht der Abenteurer eine Tube aus seiner mit Schnüren zusammengehaltenen Schachtel und flüstert mir ins Ohr, ins Ohr von einem, der es offensichtlich bitter nötig hat: »Jeden Abend damit eincremen und gleichzeitig heftig ziehen.« Die paar Scheine zahle ich von Herzen gerne, nicht für die Verlängerungssalbe, nein, für die Momente der Freude und des Leichtsinns, die mir der Alte spendet.
    Nachmittags endlich in Bangui. Ich habe bereits für mein Busticket gezahlt, ich darf weg. Die andern müssen erst das mitgebrachte Vieh verkaufen, um genug Geld für den Fahrschein zu organisieren.
    Zentralafrikas kleine, feuchte, heiße Hauptstadt, nur dreihunderttausend Einwohner. Aber nicht ohne Charme, nicht trostlos wie Khartoum. Viele Franzosen leben hier. Und viel französisches Militär. Es wacht darüber, dass Staatschef Kolingba beim Diamantenklauen bleibt und nicht auf die Idee verfällt, eine Demokratie einzuführen. So garantiert er Ruhe und Profit. Auch für Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht. (Die noch immer fleißig einen Teil ihres Atommülls hier ablädt.) Damit das Volk schön dumpf bleibt – knapp sechzig Prozent Analphabeten –, hängt über der Avenue de France ein riesiges Transparent, auf dem der Kulturminister zur Premiere von »Terminator 2« mit Muskelprotz Schwarzenegger einlädt.
    Abendessen im Hotel, draußen gehen Blitze und Regenschauer nieder, letzte Ausläufer einer hartnäckigen Regenzeit. Gespräch mit Pierre T. aus Quebec, ehemaliger Rektor, der hier im Auftrag seiner Regierung nach einem Ausweg sucht, um ein funktionierendes Schulsystem zu etablieren. Ein freundlicher, warmer Mensch. Die Armut vor Ort bedrücke ihn nicht, nicht mehr. Nicht aus Gleichgültigkeit und kaltem Herzen. Er sei vielmehr zu der Überzeugung gekommen, dass die Mehrheit der Weißen in Europa und Nordamerika um nichts glücklicher lebe. Schlimmer: dass die Betäubung durch obszönen Konsum, dass die Abwesenheit von inneren und äußeren Wagnissen zu einer Trostlosigkeit geführt habe, die er hier nicht spüre.
    Die Chefin des Hotels setzt sich zu uns, Thérèse, eine Französin. Sie erzählt, dass vor Tagen ein Dieb vor ihrem Haus um ein Haar standrechtlich zu Tode geprügelt worden wäre. Hätte nicht der Bestohlene zuletzt Erbarmen gezeigt und den Mob zum Einstellen der Prügel überredet. Ich frage sie, wie sie solche Erlebnisse verkraftet. Und Thérèse: »Ich gewöhne mich an Afrika, das ist der Preis. Ich glaube, ich bin blind geworden.«
    Auf dieses Blindwerden habe ich immer gewartet. Es kam nie. Im Gegenteil, jeden Tag sehe ich genauer. Und bin schneller verletzt. Pierre T. hat gnadenlos recht, in meinem Apartmenthaus in Paris beugen sich Fünfundzwanzigjährige aus dem Fenster, um eine Parabolantenne zu montieren und abends in hundertfünfundzwanzig Kanäle zu glotzen. Aber in Afrika heile ich auch nicht. Den Blick auf die Zumutungen, die anderen zugemutet werden, er verletzt jedes Mal penetranter. Hier haben sie nichts. Keinen Zutritt zu Wissen und Büchern, keinen übrigen Euro für eine Zugfahrt ans Meer, kein Schaumbad im fünf Meter entfernten Badezimmer, keine Telefonleitung, um jene Frau oder jenen Mann anzurufen, nach denen man Sehnsucht spürt. Alles das nicht. Dafür bietet Afrika – wieder stimmt die Diagnose des Rektors – das Leichte, das Lachen, das Nachsichtige, das Großzügige. Verwirrend. Es gibt einen Kindervers von Hans Magnus Enzensberger, vielleicht hat er ihn einmal in Europa und einmal in Afrika aufgeschrieben: »Ich wär’ gern anderswo, denn hier bin ich sowieso.«
    Die Weiterfahrt nach Zaire ist gefährdet. Die Deutsche Botschaft rät ab. Zu viel Blut wäre dort in letzter Zeit verspritzt worden. Ich eile zur Zairischen Botschaft. Im Empfangszimmer hängt ein gemeinsames Foto von Mobutu und Kolingba. »Vive la fraternité«, steht darunter. Dass die beiden Berufsverbrecher zum selben Stamm gehören,
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