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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Autoren: Victor Hugo
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glänzende Gegenwart. Keine Metropole ohne ihren Stationskommandanten. Wenn ein Bischof über einen gewissen Einfluß verfügt, folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Eskorte junger Cherubim aus den Seminaren, die um ihn einen undurchdringlichen Kreis bilden und aufpassen, daß sein Lächeln nicht einem Fremden zufällt. Dem Bischof gefallen, bedeutet eine Anwartschaft auf ein Unterdiakonat. Man will seinen Weg machen, und das Apostolat schließt das Canonicat nicht aus.
    So wie es bei den Beamten den Dreispitz gibt, so unter den Männern der Kirche die Mitra. Da sind diese Bischöfe, die bei Hof gutangeschrieben sind, reich, in der Gesellschaft etwas gelten, ohne Zweifel zu beten verstehen, aber darum nicht minder geschickt sind, auch weltliche Bitten vorzutragen, und nicht anstehen, in den Vorzimmern der Großen zu sitzen; sie sind das Sinnbild der vereinigten Geistlichkeit und Diplomatie, eher Abbés als Priester, eher Prälaten als Bischöfe. Wohl dem, der in ihrem Schatten gedeiht. Überall haben sie Einfluß, und sie lassen auf Günstlinge und Schmeichler, auf alle diese gefälligen jungen Leute fette Pfarreien, Pfründen, Archidiakonate, Almosenierstellen und Ämter in den Kathedralen und bischöflichen Palais herabregnen. Indem sie selbst ihren Weg machen, schleppen sie ihre Satelliten hinter sich her; es ist wie bei der Sonne, die ihre Planeten durch das Weltall schleift. Von ihrem Glanz fällt etwas ab auf ihre Gefolgschaft. Je reicher die Diözese des Bischofs, um so fetter die Pfarre, die er seinem Günstling bieten kann. Und gar erst Rom! Ein Bischof, der es versteht, Erzbischof zu werden, ein Erzbischof, der es zum Kardinal bringt, nimmt dich als Konklavisten mit, du trittst in die Rota ein, bekommst das Pallium, wirst Kammerherr, Monsignore sogar, und wer erst Bischof ist, hat nur mehr einen Schritt zur Eminenz, und von der Eminenz zur Heiligkeit führt die Wahlurne. Das Barett darf immer von der Tiara träumen. Heutzutage ist der Priester der einzige Mensch, der es regelrecht zum König bringen kann – und zu welch einem König! Welch eine Pflanzschule der Hoffnungen ist doch ein Priesterseminar! Wie viele schüchtern errötende Chorknaben, wie viele junge Abbés tragen auf dem Kopf bereits den berühmten Korb mit den Eiern aus der Fabel? Wie oft wird gewöhnlicher Ehrgeiz für innere Berufung gehalten, und das noch in seliger Selbsttäuschung?
    Monsignore Bienvenu, dieser bescheidene, arme, dabei höchst eigenartige Mensch, wurde nicht zu den großen Männern der Kirche gezählt. Man erkennt es schon daran, daß sich keine jungen Priester um ihn drängten. Wir haben schon gesagt, daß er in Paris nicht »gut ankam«. Kein zukunftsfreudiger Abbé wünschte sich an diesen greisen Einzelgänger zu klammern. Kein bescheidenes Pflänzlein wollte im Schatten dieses Baumes grünen. Seine Canonici und Großvikare waren gute alte Männer, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözese kein Sprungbrett zum Kardinalsamt war, die ihrem Bischof glichen und sich von ihm nur in dem einzigen unterschieden, daß sie bereits am Ende ihrer Karriere angelangtwaren, während er doch ein Ziel erreicht hatte. Man wußte, daß Monsignore Bienvenu niemanden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus seinem Seminar hervorgingen, ließen sich bald den Erzbischöfen von Aix oder Auch empfehlen und machten sich aus dem Staube. Denn schließlich, um es zusammenzufassen, man will vorwärtsgestoßen werden. Ein Heiliger, der die Selbstverleugnung übertreibt, ist ein gefährlicher Nachbar; man könnte sich leicht mit unheilbarer Armut anstecken, oder ein so steifes Rückgrat bekommen, daß es ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die man besser meidet. Darum wurde Monsignore Bienvenu allein gelassen. Wir leben in einer dumpfen Gesellschaft. Vorwärtskommen, das ist die höchste Weisheit der Korruption.
    Nichts ist scheußlicher als dieses Ideal des Erfolges. Seine trügerische Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die Menge bedeutet Erfolg soviel wie geistige Überlegenheit. In unserer Zeit ist eine fast offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten und ist noch stolz darauf, seine Livree zu tragen. Wer das große Los gewinnt, gilt für einen klugen Mann. Wer triumphiert, ist ehrenwert. Von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen abgesehen, hat unser Jahrhundert, kurzsichtig, wie es ist, nur falsche Helden bewundert. Wenn ein Notar Abgeordneter wird, ein falscher Corneille einen Tiridates
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