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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Autoren: Victor Hugo
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versah.
    Mademoiselle Baptistine war eine hochgewachsene, blasse, hagere, sanfte Person; sie war die Verkörperung alles dessen, was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurcht Anspruch zu haben, muß eine Frau Mutter sein. Hübsch war sie nie gewesen; aber ihr Leben, das nur aus einer langen Reihe wohltätiger Werke bestand, hatte ihr schließlich eine gewisse Reinheit und Klarheit des Wesens verliehen, die man die Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn sie in ihrer Jugend mager gewesen war, so konnte man jetzt, in ihrem reiferen Alter, fast von Durchsichtigkeit sprechen. Sie war eher eine Seele als ein jungfräulicher Körper; gerade noch genug Leib, daß man ihr ein Geschlecht beilegen konnte – ein Minimum an Materie, das in Glanz gehüllt schien. Ihre großen Augen hatte sie immer zu Boden gerichtet, als suche ihre Seele einen Vorwand, noch auf Erden zu verweilen.
    Frau Magloire war eine kleine Alte, blaß, beleibt, stets geschäftig, immer außer Atem, und das, einmal weil sie zu jeglicher Zeit beschäftigt war, dann aber auch infolge ihres Asthmas.
    Als Herr Myriel eintraf, wurde er im bischöflichen Palais mit allen Ehren untergebracht, die von den kaiserlichen Dekreten festgesetzt waren; denn die Staatsweisheit wies den Bischöfen den Rang gleich nach den Marschällen zu. Der Bürgermeister und der Präsident machten ihm sofort ihre Aufwartung, er aber, seinerseits, besuchte zuerst den General und den Präfekten.
Myriel wird Bischof Bienvenu
    Das bischöfliche Palais in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein geräumiges, schönes Gebäude, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie an der Universität Paris, Abbé von Simore, seit 1712 Bischof von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Eindruck eines richtigen Herrensitzes. Alles darin war groß angelegt, die Gemächer des Bischofs, die Zimmer, der Festsaal mit den Wandelgängen, die ihn, zualtflorentinischen Arkaden ausgestaltet, umliefen, und die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesaal, einem prächtigen Raum, der im Erdgeschoß lag und zu den Gärten hinausführte, hatte Monsignore Puget am 29. Juli 1714 die hochwürdigen Herren Charles Brûlard de Genlis, den Erzbischof Prinz d’Embrun, Antoine de Mesgrigny, Bischof von Grasse, Philippe de Vendôme, Großprior von Frankreich, Abbé von Saint-Honoré de Lérins, François de Berton de Grillon, Bischof von Vence, César de Sabran de Forcalquier, Bischof von Glancève, Jean Soanen, Hofprediger und Bischof von Senez, bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben hochwürdigen Herren schmückten den Saal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldenen Buchstaben auf einer Marmortafel eingegraben.
    Das Hospital war ein enges, niedriges Gebäude, einstöckig, mit einem kleinen Gärtchen.
    Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Dann ließ er den Direktor zu sich bitten.
    »Herr Direktor«, sagte er, »mit wieviel Kranken ist Ihr Spital augenblicklich belegt?«
    »Wir haben sechsundzwanzig Patienten, Monsignore.«
    »Soviel habe ich auch gezählt.«
    »Wir haben die Betten recht eng aneinanderrücken müssen«, meinte der Direktor.
    »Ich habe es bemerkt.«
    »Die Krankensäle sind nur kleine Zimmer und schwer zu lüften.«
    »Das scheint mir auch so.«
    »Selten fällt ein Sonnenstrahl in den Garten, und dann ist zu wenig Platz da, die Kranken darin unterzubringen.«
    »Das habe ich mir auch gesagt.«
    »Wenn Epidemien ausbrechen – wir hatten heuer den Typhus und vor zwei Jahren das Fieber –, zählen wir manchmal bis zu hundert Kranke und wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.«
    »Dieser Gedanke ist mir auch gekommen.«
    »Was wollen Sie, Monsignore? Man muß sich darein schicken.«
    Dieses Gespräch fand in dem Speisesaal im Erdgeschoß statt.
    Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich unvermittelt an den Direktor.
    »Wieviel Betten könnte man wohl in diesem Saal unterbringen?«
    »Im Speisesaal des bischöflichen Palais?« fragte der Direktor verblüfft.
    Der Bischof überschaute den Saal und schien die Maße zu überschlagen.
    »Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterstellen«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche; dann wieder laut:
    »Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Direktor. Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Sie sind sechsundzwanzig Leute in fünf oder sechs kleinen Zimmern, wir sind unser drei und haben Platz für sechzig; das kann nur ein
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