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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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doch er wirkt ausg e glichener als noch vor einem Tag. Woher dieser plötzliche Wandel? Hat er mit dem Ortswechsel zu tun oder steckt etwas anderes dahinter?
    Nein , sage ich mir, das ist es nicht . Willems verwirrte Phasen werden immer wieder von Phasen der Klarheit abgelöst, in denen er in der Lage ist, das Bett zu verlassen, spazieren zu gehen und zu malen – das ist auch bei uns in Arles so gew e sen. In welchen zeitlichen Abständen sich Anfälle und Ruh e phasen abwechseln, lässt sich nicht sagen, und genau das macht Willems Krankheit so unerträglich. In einem Moment gibt man sich der Illusion hin, es würde ihm endlich besserg e hen; im nächsten erleidet er einen weiteren Zusammenbruch, und alles beginnt von Neuem .
    Als es an der Zeit ist, nach Arles zurückzukehren, kommt Frédéric zurück. Er und ich verabschieden uns von Willem, der merkwürdig gelöst wirkt. Sein Blick schweift in die Ferne, was ich als Zeichen dafür werte, dass er allein sein will. An der Tür drehe ich mich noch einmal zu ihm um.
    Nie werde ich vergessen, was ich in diesem Augenblick sehe. Willem, selbstvergessen auf der Bettkante sitzend; sein eins a mes , sturmgraues Auge, das fiebrig glänzt; die Weise, wie er die Arme um d en Oberkörper schlingt: ein Kind, de s sen Körper vor Kälte erzittert. Ich habe ihn noch nie so ges e hen – es ist, als blick t e er in einen Abgrund, den niemand a u ßer ihm sehen und dessen Gefahr für ihn kein anderer Mensch erfa s sen kann.
    »Er ist wieder da«, murmelt er. »Ich fühle es, er ist wieder da.« Urplötzlich springt er auf, läuft ans Fenster und starrt hinaus. Dann stößt er einen Schrei aus, der mir die Luft a b schnürt, Blut und Mark gefrieren lässt.
    »Ah«, macht Willem, »Er – wieder da! So viele Körper, saft i ge, lebendige Körper, Arme und Beine und Haar und Augen, und jedes davon ein Leben . Er braucht mehr … will mehr . «
    »Raus hier«, stößt Frédéric hervor. »Ich hole Hilfe.« Doch während Frédéric das Zimmer verlässt, kann ich mich nicht bewegen, mein Geist schwebt im Raum über mir.
    Willem wird von Tobsucht erfasst. Er stürmt im Zimmer auf und ab und fasst sich immer wieder an die Stirn, reibt sich die Haut und reißt an dem Verband um sein Auge. Seine Li p pen formen Worte, die ich kaum verstehen kann, während eine tiefere Stimme, die ebenfalls aus ihm zu tönen scheint, Laute von sich gibt, die mich an ein Raubtier denken lassen.
    »Die Augen!« Er reißt sich ganze Büschel seiner roten Haare aus. »Die Augen! Große, runde, leere Augen, jedes davon eine Seele . «
    Als Willem sich an mich wendet, kann ich mich noch immer nicht rühren. Was soll ich tun, was kann ich tun? Verharren? Fliehen?
    »Gib sie ihm, gib ihm die Augen!«
    Ich höre jemanden schluchzen – ein trockener Laut. Erst kurz darauf begreife ich , dass ich selbst ihn ausgestoßen h a be.
    Eine Berührung in meinem Rücken erweckt mich aus meiner Starre. Es ist, als würde mein Geist an einem langen Faden zurück in meinen Körper gezogen. Hinter mir stehen Frédéric, ein Arzt und mehrere Schwestern. Während sie sich an uns vorbeischieben und Willems Arme ergreifen, um ihn aufs Bett zu legen und festzubinden, nimmt Frédéric meine Hand und führt mich mit Nachdruck aus dem Raum. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss und zerschneidet Willems zornigen Aufschrei.
     
    Als ich erwache, hat jemand die Fesseln um meine Handgelenke gelöst und man hat meine Wunde frisch verbunden. Dort, wo kein Auge, so n dern nur noch knotiges Fleisch in den Höhlen sitzt, spüre ich ein dumpfes Pochen und Jucken. Ich schäle mich aus den Decken, stehe auf und öffne die Fensterläden.
    Die Landschaft ist ein Fluss aus Grün und Blau. Durch die Gitte r stäbe und die Silbersträhnen des Regens sieht mein einsames Auge seine Gestalt – er steht an der Klostermauer und blickt zu mir herauf. In der Ferne ziehen Wolken über die lang gezogene Chaîne des Alpilles , die sich dunkelviolett vom Himmel abhebt. Das Rauschen und Flüstern des R e gens verwebt sich zu einer Stimme. Sie ist mir vertraut, diese Stimme, ihr Klang malt Bilder, wie meine Hände es mithilfe von Farbe und Pinsel tun. Die Bilder materialisieren sich vor meinem inneren Auge, ehe sie wieder zerfallen, sich auflösen und nichts zurücklassen außer einem G e fühl von Abwesenheit.
    »Augen«, trägt der Wind die Stimme an mein Ohr, »Willem, ich brauche noch mehr Augen, viele, viele Augäpfel, prall und weiß, mit roten Äderchen, und
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