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Leon, Der Slalomdribbler

Leon, Der Slalomdribbler

Titel: Leon, Der Slalomdribbler
Autoren: Joachim Masannek
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soweit war, bis wir alle zusammen waren und es die Wilden Fußballkerle in Wirklichkeit gab, musste noch sehr viel passieren. Aller Anfang ist schwer, das wisst ihr bestimmt, doch in unserem Fall galt das besonders. Als bei uns alles anfing, gab es nur Schnee. Es herrschte ein ewiger, nie enden wollender Winter und dann stellten sich auch noch der Dicke Michi und seine Unbesiegbaren Sieger in unseren Weg.

Wilde Kerle halten keinen Winterschlaf
    Der Winter in diesem Jahr dauerte jetzt schon bis in den April. Die Osterferien standen vor der Tür und nur noch fünf kurze Tage trennten uns von den vielleicht schönsten zweieinhalb Wochen, die es für einen neunjährigen Jungen im ganzen Jahr gibt. Zweieinhalb Wochen ohne Schule und Hausaufgaben. Zweieinhalb Wochen, in denen keiner der Freunde von seinen Eltern auf eine Insel oder einen Berg entführt werden würde. Zweieinhalb Wochen, in denen man schon nach dem Frühstück auf den Bolzplatz hinauslaufen und erst mit der untergehenden Sonne zurückkehren würde. Zweieinhalb Wochen Fußball pur, von morgens bis abends, und in den Pausen eine Apfelsaftschorle bei Willi am Kiosk. Kennt ihr dieses kühle, prickelnde Gefühl in der ausgetrockneten Kehle? Kennt ihr dieses Gefühl, wenn der erste warme Frühsommerwind über die verschwitzten Haare streicht und sich die nackten, von den Fußballschuhen befreiten Zehen zum ersten Mal in die noch viel zu kalte Erde bohren? Kennt ihr dieses Gefühl? Und dazu hörten wir dann Willis Geschichten aus den alten Tagen des Fußballs. Tage, die wir nicht kannten, die aber aus Willis Mund direkt vor unseren Augen entstanden. Geschichten über Gerd Müller, den Bomber der Nation, der in einer Saison noch über dreißig Tore schoss und der die Rückennummer 13 trug, genauso wie ich. Geschichten über Kaiser Franz, der über den Fußballplatz herrschte, oder immer wieder Geschichten über Pelé, den besten Fußballspieler, den es je gab.
    Doch in diesem Jahr dauerte der Winter jetzt schon bis in den April. Eine mindestens zwanzig Zentimeter hohe Schicht aus Schnee und Eis lag auf dem Bolzplatz und der Stadt und deckte alle unsere Träume zu. Mein Bruder Marlon und ich saßen in unserem Zimmer auf dem Boden und starrten durch die Eisblumen am Fenster zum grauen Himmel über der Hubertusstraße empor. Jetzt waren es nur noch vier Tage bis zu den Osterferien. Die Fußballschuhe, die wir zu Weihnachten bekommen hatten, juckten an unseren Füßen. Mein Fußball, den Kratzer und Schrammen wie Narben verzierten, lag abwechselnd in unserem Schoß. Wir stellten uns vor, dass wir nur einen Winterschlaf hielten, so wie der Grizzly in Kanada. Doch wir fühlten uns eher wie der Tiger im Käfig vom Zoo Hellabrunn. Hin und her flog der Ball und das immer schneller. Das konnte nicht gut gehen. In der Schule, im Geschichtsunterricht, sprachen die Lehrer jetzt über die Eiszeit. Ich fand das nicht witzig. Ich dachte nur: Wenn es in der Eiszeit schon Fußball gegeben hätte, hätten die Menschen die Eiszeit nie überlebt. Marlon und ich saßen jetzt nicht mehr. Wir standen und warfen uns den Ball wie wild zu: Torwarttraining nannten wir das. Doch Marlon war die Nummer 10, Mittelfeldregisseur, und ich Mittelstürmer. Was sollte das Torwarttraining? Deshalb schossen wir den Ball irgendwann gegen die Wand. BAMM! Immer abwechselnd: BAMM! BAMM!

    Im Fasanengarten Nr.4, bei meinem besten Freund Fabi, passierte dasselbe. Auch er drosch den Ball gegen die Wand seines Zimmers. BAMM! Und Juli zusammen mit Joschka, seinem kleineren Bruder, im Haus schräg gegenüber: BAMM! BAMM! Doch zwei Straßen weiter, in der piekfeinen Alten Allee Nr.1 konnte Maxi nicht in sein Zimmer. Da stand das Barbiepuppenhaus seiner jüngeren Schwester. Also donnerte er den Ball gegen die Wohnzimmerwand: BAMM! Immer genau zwischen Spiegel und Glasvitrine: BAMM! Das war sein Tor.
    Wie Trommelschläge hallte es jetzt von Haus zu Haus durch die Stadt: BAMM! Aus der Hubertusstraße, über den Fasanengarten bis in die Alte Allee: BAMM! Nur Raban, der Held, machte nicht mit. Er saß zu Hause, in dem kleinen Reihenhaus der Rosenkavaliersgasse Nr.6, und starrte stinksauer gegen die Wand, während ihm die Töchter der Freundinnen seiner Mutter giggelnd und gackernd die roten Haare einlegten. Aber auch er hörte die Trommeln und das gab ihm Kraft.
    Nur noch drei Tage bis zu den Osterferien und der Himmel war immer noch grau. Das heißt, wenn man ihn überhaupt sehen konnte. Fette, Handteller große
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