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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman
Autoren: Random House
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Mathematik-Schularbeiten saß und keine einzige Aufgabe lösen konnte. Vom Lateinlehrer zur Tafel gerufen, wusste ich keine Vokabeln. Manchmal stand ich auch an einem offenen Fenster, kletterte auf das Gesims, breitete die Arme wie Flügel weit aus und flog mit raschen Schlägen davon. Kühle Luft umfächelte meinen durchgestreckten Körper, mein Nachthemd bauschte sich im Abendwind. Ich zog Kreise, schwebte hoch am Himmel und blickte in das weite, mit bizarren, in ein fahles Licht getauchten grünlichen Felsen überzogene Land. Mühelos schraubte ich mich hoch und höher, in einem atemberaubenden Spiralflug drehte ich mich lustvoll um die eigene Achse. Schwungvoll zog ich meine Kreise, bis ich voll Entsetzen merkte, dass meine Arme erlahmten, ich mich nicht mehr in der Luft halten konnte. Alle verzweifelten Anstrengungen, mit zusammengebissenen Zähnen und in höchster Konzentration, erwiesen sich als vergeblich. Unter mir tauchte ein riesiger See auf, der näher und näher kam. Beim Eintauchen in das eisige Wasser merkte ich, dass ich nicht schwimmen konnte. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen. Den schwarzen Schwimmreifen vor mir konnte ich nicht fassen, obwohl er zum Greifen nah war. Namenloser Schrecken erfüllte mich, es wurde dunkel. Langsam sank ich auf den Grund hinab, tief, immer tiefer. Die Angstvisionen blieben oft bis zum Mittag des folgenden Tages präsent.
    »Die Hermi schaut gar so traurig drein. Ich glaub, sie ist recht unglücklich in der neuen Schule«, hörte ich meine Großmutter sagen.
    »Das ist die Umstellung. Samma froh, dass sie nimmer mit den Buben unterwegs ist«, antwortete meine Mutter.
    Betrübt und mit hängenden Schultern schlich ich umher, zog mich zurück und saß den ganzen Nachmittag allein zu Hause, obwohl man mich bei schönem Wetter häufig ermahnte: »Warum gehst denn net an die frische Luft? Es is so angenehm draußen!« Ich verfasste schaurige, von trauriger Sentimentalität triefende Geschichten, die ich am Abend vorzulesen pflegte: »Woher nimmt das Kind nur diese ung’sunde Fanta sie?«, wunderte sich meine Mutter. Ich las alle Romane von Jules Verne, verschlang mindestens fünfzig Bände von Karl May, vertiefte mich in die »Schatzinsel« von Robert Louis Stevenson und entdeckte mit Sherlock Holmes die Faszination von Kriminalromanen. Wenn ich mich nicht, ans Fenster gekauert, in Bücher vertiefte, kümmerte ich mich um den schwarzen Kater, der als Einziger von der im Hof lebenden Katzenfamilie übrig geblieben war. Die sogenannte »alte« Katze war gestorben, ihre drei Kinder hatten ein neues Heim gefunden. Meinen tierischen Freund nannte ich »Peterl«. Frau Zottl, der alten Frau aus dem »Ausnahmstüberl«, war der muntere Kater, der oft in ihrem kleinen Blumenbeet scharrte, um dann seine Notdurft zu verrichten, ein Dorn im Auge. Sie sah es daher nicht ungern, wenn ich ihn in unsere Wohnung trug, wo er in Abwesenheit meines Vaters, der dies als schweren Verstoß gegen die Hygiene empfand, auf dessen alter Freizeithose schlummerte. Hörte ich Papas Schritte im Flur, wenn er am späteren Nachmittag aus dem Amt nach Hause kam, schob ich den schlaftrunkenen Peterl, der nicht wusste, wie ihm geschah, schnell aus dem ebenerdigen Fenster. Manchmal hob mein Vater den Kopf, um misstrauisch zu schnuppern. Ohne Zweifel! Seine Kleidung, auf der sich der Kater kurz davor noch geräkelt hatte, fühlte sich nicht nur warm an, sie roch auch kätzisch. Er ahnte, dass ich sein Verbot, obwohl ich es mit unschuldigem Blick vehement leugnete, vor allem bei Regen und Kälte umging.
    Peterl mit dem seidig glänzenden schwarzen Fell und dem weißen Schwanz sollte kein langes Leben beschert sein. Nach einem kurzen, glücklichen Dasein fand er ein qualvolles Ende. Niemand bemerkte, dass die bereits etwas verwirrte Frau Zottl abermals Rattengift in den Ecken des Hofs ausstreute, wie sie dies schon einige Male getan hatte. Diesmal war jedoch keiner zur Stelle, um die dunkelgrünen Giftperlen rechtzeitig zu entfernen. Peterl fraß die wohlschmeckende, nicht für ihn bestimmte Mahlzeit, und bald schreckte das klägliche Miauen des sterbenden Tiers die Hausbewohner auf.
    Frau Zottl gestand ihre Tat ohne Reue: »Na, konn man nix mochen, waas ma wenigstens, dass wirkt!« Ungerührt trippelte sie, wie immer gegen Abend, die kurze Strecke zum Gasthaus am Ende der Schlossergasse. Im Beisl »Zum goldenen Löwen« holte sie ihr tägliches Viertel Rotwein ab, das die gutmütige Wirtin Frau Zottl in
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