Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman
Autoren: Random House
Vom Netzwerk:
Anbetracht ihres hohen Alters quasi als Medizin kostenlos ausschenkte. Nicht ganz zufällig wurde ich Zeugin, wie die alte Frau beim Heimweg in der dunklen Einfahrt hinfiel. Es sah aus, als ob sie im Gehen an dem übervollen Glas genippt hätte und dabei gestolpert wäre. Mit »Hoben’s Ihna weh tan?« eilte ich ihr sofort zu Hilfe, wobei ich rasch den dünnen Faden entfernte, den ich in zwanzig Zentimeter Höhe sorgfältig zwischen den für den Winter gestapelten Holzstößen gespannt hatte. Frau Zottl lag jammernd auf dem Boden. »Au, meine Hüfte! Meine Hüfte! Ich kann net aufstehen! Des tut weh!« Noch immer hielt sie das Rotweinglas umklammert, dessen über ihr Kleid verschütteter Inhalt einen üblen Geruch verbreitete. Bei dem Sturz hatte sie sich einen Bruch des rechten Oberschenkelhalsknochens zugezogen, der schwer ver heilte. Sie konnte sich nicht mehr allein versorgen und landete in einem Pflegeheim. Ich habe sie nie mehr gesehen und auch nicht vermisst.
    Von da an erhellte sich das schwarze Loch, in dem ich zu versinken gedroht hatte. Wie durch ein Wunder ging es mit mir bergauf. Meine seelische Gesundung unterstützte ich durch aufmunternde Lektüre. »Die neue Klasse« von Milovan Djilas aus der städtischen Bücherei entsprach jedoch nicht meinen Erwartungen. »Damit wirst ka Freud ham!«, prophezeite mir der ältere Bibliothekar mit der runden Brille ganz richtig. Tatsächlich entpuppte sich der vermeintliche Seelenratgeber für Jugendliche als ein kritisches Werk über den Kommunismus – ich hatte Klasse mit Schulklasse verwechselt.
    »Wos suchst denn eigentlich?«, wurde ich beim Zurückbringen des Buches gefragt. Verlegen stotternd brachte ich mein Anliegen vor: »Si wolln mi net! Sie lachn über mi!« Der belesene Mann, der als Pensionist die Leitung der Städtischen Bücherei übernommen hatte, hob nachdenklich die Augenbrauen, dann tröstete er mich: »Das ist normal in deinem Alter. Is uns allen so gangen!« Er tauschte die hochpolitische Streitschrift gegen »Autosuggestion für Anfänger«.
    Ich las darin, befolgte die Ratschläge und gewann an Selbstvertrauen. »Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!«, murmelte ich, wie empfohlen, zwanzig Mal täglich halblaut vor mich hin. Für jede Notlage gab es passende Sprüche. »Ich glaube es – ich glaube es – ich glaube es!« mobilisierte, morgens vor dem Spiegel gesprochen, meine geheimen Kräfte. Seelische Belastungen verscheuchte ich einfach mit »Es geht-weg-weg-weg-weg«, und Schularbeiten schaffte ich mühelos mit »Ich kann – kann – kann«. Im Übrigen galt: »In mir wohnt eine unermesslich große Kraft!« – »Jessas, jetzt redt die Hermi mit sich selber«, entsetzte sich meine Großmutter, als sie beim Kartoffelschälen in der Küche zufällig Zeugin meiner Selbstgespräche wurde.
    Die Probe aufs Exempel fand statt, als unser nur durch den steifen weißen Kragen als Priester erkennbarer Religionslehrer eines Tages eilig das Klassenzimmer betrat. Er kam direkt aus der Morgenmesse, war danach aufgehalten worden und hatte sich etwas verspätet. Säuberlich trug er die Fehlenden im Klassenbuch ein, dann stand er auf, um den Unterricht zu beginnen. Ich hob die Hand. »Nun, Meier?«, fragte er milde. »Herr Professor, Sie haben das Hosentürl offen!«, klärte ich den Geistlichen über seinen kleinen Toilettenfehler auf. Meine Mitschülerinnen erstarrten,waren jedoch hocherfreut über die willkommene Unterbrechung, und ich erntete zustimmende Blicke ob meiner Frechheit. Der geistliche Herr räusperte sich verlegen, errötete, kehrte uns den Rücken zu und fummelte an seiner Hose. Wenig später stieß er aus schmalen, zusammengepressten Lippen ein knappes »Danke!« hervor. Ein lautes Kichern erfüllte den Raum, ich sah bescheiden zu Boden. In der Pause feierte man mich als Heldin. Christl, Klassenbeste und Leitfigur, lobte: »Toll, Hermi!« Mein Status erfuhr einen wundersamen Wandel. Von da an blickte ich nicht mehr zurück – man achtete und respektierte mich.
    In der Deutschstunde fuhr ich einen weiteren Triumph ein. »Meier, die erste Strophe von der ›Glocke‹!«, rief der hagere, leicht bucklige, weißhaarige Lehrer, der kurz vor der Pensionierung stand. »Du weißt, es war bis heute zu lernen!« Ich merkte, dass unser ziemlich tauber Lehrer sein Hörgerät nicht trug, anscheinend hatte er es vergessen. Seiner Aufforderung kam ich gern nach, denn ich hatte mich gut vorbereitet. Mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher