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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman
Autoren: Random House
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beredten, schwungvollen Gesten, rollenden Augen und ausdrucksvoller Mimik bot ich das bei Deutschpädagogen überaus beliebte Gedicht von Friedrich Schiller dar: »Das Lied von der Glocke. Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden … frisch«, hier beugte ich mich dramatisch vor und stampfte anfeuernd mit dem Fuß auf, »Gesellen, seid zur Hand«. Bei »Von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß« wischte ich mir heftig über das Gesicht. In der ganzen Zeit entfuhr meinen wild bewegten Lippen kein Laut, was den schwerhörigen alten Herrn sichtlich verwirrte. Er legte seine Hand an das rechte Ohr und lauschte angestrengt. Er hörte nichts, denn es war nichts zu hören. Schließlich zog er sich aus der Affäre: »Genug, das hast du gut gelernt! Schön, sehr schön. Setzen.« Dann wandte er sich zur Klasse: »Ich weiß nicht, was es bei diesem erhabenen Klassiker zu lachen gibt. Und merkt euch: Man macht beim Sprechen den Mund auf. Wie Meier soeben!«
    Ich sorgte auch weiterhin für ausreichend Spaß. Zum Schrecken der Lehrer avancierte ich zum Unterhaltungsprofi. Meine anfangs passablen Noten sanken in den Keller. Hausaufgaben schrieb ich, wenn über haupt, grundsätzlich nur während der Religionsstunde. Hefte führte ich nur sporadisch, sodass jede Vorbereitung auf Prüfungen illusorisch wurde. In den meisten Fächern lavierte ich stets zwischen Genügend und Nicht genügend. Gegen Ende der 7. Klasse erhielt ich die dritte Mathematikschularbeit in Folge mit einem »Nicht genügend« zurück. »Du bist zu faul. Den Kasperl zu spielen ist leichter, aber halt zu wenig!«, ätzte der unsympathische Pädagoge.
    Ein »Sitzenbleiben«, also die Wiederholung einer Klasse, drohte. Diese Schande sowie den Verlust eines ganzen Jahres galt es zu verhindern. Leicht beunruhigt trug ich meine Arbeit nach Hause. Die Unterschrift der Eltern fälschte ich zu diesem Zeitpunkt schon routinemäßig und sehr perfekt. Das war kein Problem und rettete den häuslichen Frieden. Doch zum Aufsteigen in die 8. Klasse benötigte ich unter allen Umständen ein positives Ergebnis.
    Schließlich kam mir eine verblüffend einfache Idee, die ich als Krönung meiner Schulzeit empfand. Im Nachhinein habe ich mir selbst dazu gratuliert. Nicht ganz so faul, wie mich der dumme Rechenmaxl einschätzte, löste ich mithilfe von Pauli, unserer besten Mathematikerin, ein Beispiel der verfehlten Schularbeit. Den Rechenvorgang notierte ich sorgfältig auf einem Zettel. Zu Hause, allein im stillen Kämmerlein, nahm ich mir das Heft vor, bog die Heftklammer in der Mitte auf und fügte eine neue Seite ein, auf der ich zuvor in bewusst schlampiger Schrift mit vielem Durchstreichen und Ausbessern die Aufgabe gerechnet hatte. Eine wahre Meisterleistung der Kalligrafie! Am darauffolgenden Tag überreichte ich mein Werk, wobei ich Augenkontakt mied und schüchtern zu Boden sah: »Herr Professor, ich glaube, Sie haben etwas übersehen!« Dieser blickte mich scharf an: »Sollte ich mich tatsächlich geirrt haben? Ich schau mir das nochmals an!« Grollend akzeptierte er meine erstklassige Fälschung. Ich war gerettet.
    Das Zeugnis am Ende des Schuljahrs bot ein schönes, weil grafisch vollkommen einheitliches Bild –  ein »Genügend« reihte sich an das andere. Die Zahl der Fehlstunden war enorm, denn ab der 7. Klasse nahm ich mir jede Woche zumindest einmal frei. An diesem Freudentag verließ ich am Morgen, wie gewohnt, pünktlich das Haus. Mein Weg führte mich allerdings nicht zur Schule, sondern in ein kleines Espresso-Café, wo mir das Läuten der Kirchenglocke um acht Uhr, das gleichzeitig den Beginn des Unterrichts bedeutete, wie Musik in den Ohren klang.
    Als ich schließlich das Realgymnasium mit einer miserablen Matura abschloss, stellte sich meinen Verwandten die Frage: »Was soll die Hermi werden? Was will sie denn selbst?« Ich zeigte keine Präferenz für einen bestimmten Beruf, denn Arbeit in jeder Form widerte mich an, ich liebte den Müßiggang. Doch ein Broterwerb musste sein, und so wandte sich meine Mutter an ihren Bruder. »Er soll sie irgendwie unterbringen«, war man sich bald einig. Onkel Rudi lebte in Wien, wo er es mit viel Fleiß bis zum Leiter einer Bankfiliale in Währing gebracht hatte. Mein Vater reiste mit mir zu einem Vorstellungsgespräch, wobei er es für klüger hielt, das Maturazeugnis daheim zu lassen – ein listiger Schachzug, den ich ihm als stets korrektem Staatsdiener nicht
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