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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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er hat mir eben nur keinen Spaß gemacht. Ans Geld, beziehungsweise an das ab jetzt fehlende Geld, denke ich mal nicht. Oder doch. Aber Kurt hat recht, ich muss mehr darauf vertrauen, was ich für richtig halte. Wie ein Befreiungsschlagwirken diese ganzen wegweisenden Entscheidungen allerdings auch nicht gerade.
    Weiß ich vielleicht immer noch nicht, was ich wirklich will?
    Weiß ich überhaupt irgendwann mal, was ich wirklich will?
    Kann man das eigentlich – genau wissen, wohin das Leben gehen soll?
    Vielleicht ist das auch gar nicht so furchtbar. Da gibt es weit Schlimmeres: Mit vierzehn zu wissen, dass man Berufssoldat werden will zum Beispiel oder Fahrkartenkontrolleur. Ich bin eben nicht zielstrebig, war ich wahrscheinlich auch nie. Was soll das überhaupt für ein Ziel sein, auf das man hinarbeitet? Wahrscheinlich erinnern sich die wenigsten Menschen, wenn sie auf ihrem Totenbett liegen, an ihre herausragenden beruflichen Erfolge: »Ach, das war so toll, als ich damals zum Obersachbearbeiter der Abteilung II befördert wurde.«
    Mein Handy klingelt. Als ich rangehe, erkenne ich sofort die junggebliebene Stimme von H. P. Baxxter:
    »Mark, Mark, Mark!«, ruft er viel zu laut. »Shit, du wolltest mich doch zurückrufen, wir wollen euch immer noch ganz groß rausbringen!«
    Ich lege auf.
    »Nein«, rufe ich laut in die leere Wohnung. »Das geht nicht!«
    Das Telefon klingelt schon wieder. Die gleiche Nummer. Ich warte, dass es aufhört. Es hört nicht auf, und ich schalte das Handy auf stumm. Jetzt vibriert es nur noch. Ich kann nicht bei der Plattenfirma ein Album rausbringen, die Christina gefeuert hat. Musik machen, vielleicht die Stereotypenreaktivieren, das kann ich mir vorstellen, aber nicht bei Universal. Nicht diese Art von Berühmtsein. Das weiß ich ausnahmsweise mal sicher. Glaube ich.
    Ich muss an diesen Film aus den neunziger Jahren denken, Night on Earth , einen Episodenfilm, der von nächtlichen Taxifahrten an fünf Orten der Welt erzählt. In einer Episode wird Winona Ryder (die wunderschöne Winona, in die wohl alle – auch ich – in den Neunzigern verliebt waren, das heißt, eigentlich bin ich es noch immer) als Taxifahrerin in Los Angeles von einem Fahrgast gefragt, ob sie nicht Schauspielerin werden möchte, ihre Mitfahrerin scheint eine wichtige Filmproduzentin zu sein und könnte das arrangieren. Und Winona sagt einfach: »Nee, ist schon gut, nettes Angebot, aber ich bin eigentlich gerade ziemlich zufrieden, ich will nicht berühmt werden.«
    Nicht mit H. P. Baxxter zu reden ist doch auch eine »Entscheidung«, oder? Wenn man Entscheidung so definiert, dass man einfach sagt, was man nicht machen will, dann ist heute wirklich der große Tag der Entscheidungen. Immerhin weiß ich, was ich nicht will. Besser als nichts. Mein Lebensmotto auch hier wieder. Ich weiß nicht, was ich wirklich will. Okay, damit kann ich leben. Immerhin weiß ich jetzt, was ich wirklich nicht will.
    Ich sehe auf mein Handy, es hat endlich aufgehört zu vibrieren. Die Nummer von H. P. blinkt groß auf dem Display, darüber steht: »Verpasster Anruf«.
    Langsam wird es Zeit, ich nehme meine Tasche und verlasse die Wohnung. Vor dem Haus fegt die alte Frau aus dem Hinterhaus in Slow Motion den Gehweg, obwohl wie immer keine Blätter auf dem Asphalt liegen.
    »Na, junger Mann, geht’s auf Reisen?«
    »Ja, so könnte man es nennen.«
    Junger Mann, denke ich, das ist auch bald vorbei. Ich gehe weiter zur U-Bahn-Station, vorbei an ein paar Prostituierten in Röcken, die so kurz sind, dass sie schon gar keine Röcke mehr sind, einem Ein-Euro-Shop, einem runtergekommenen Laden mit dem verheißungsvollen Namen »Love Sex Dreams« und einer neuen Kneipe, die der No-Name-Bar in Neukölln zum Verwechseln ähnlich sieht. Gab es die gestern überhaupt schon? Die Rütli-Smiths haben es offensichtlich geschafft, die Hipster dauerhaft in Tiergarten anzusiedeln, der Doktor war nur der Vorreiter, jetzt geht alles ganz schnell. Vielleicht ist das aber auch gar nicht echt, denke ich plötzlich, und nur eine Matrix. Aber würde das überhaupt einen Unterschied machen? Laut dem Doktor kann man ja Traum und Wirklichkeit sowieso nicht mehr unterscheiden.
    Ich steige in die U-Bahn nach Neukölln, Christina abholen. Das ist ja wohl auch eine klare Entscheidung für etwas und nicht nur gegen etwas. Oder besser: eine Entscheidung für jemanden. Ich werde schon wieder so pathetisch – aber was will man an einem Tag erwarten, der sich protzig
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