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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian
Autoren: Genau mein Beutelschema
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schlafende Baby im Kinderwagen.
    »Jetzt übertreib mal nicht gleich.«

    Später stehe ich auf der Suche nach meiner alten Reisetasche im Keller meiner Wohnung in Tiergarten und traue meinen Augen kaum, was da unten rumliegt: mein alter Walkman. Außerdem ein Stapel Kassetten, die ich vor Jahren aufgenommen haben muss. Sofort stecke ich eine in den Walkman und drücke auf Play. Er funktioniert, sogar die Batterien sind noch voll. »Ballad of a Thin Man« von Bob Dylan ertönt durch die Kopfhörer, die noch schwarz sind und groß, und nicht weiß und winzig. Sofort renne ich wieder nach oben in die Wohnung, um endlich das Problemlösungstape anzuhören. Aber es ist verschwunden. Überhaupt finde ich meinen Stoffbeutel, auf den Christina und Dr. Alban vor Wochen die Adressen draufgekritzelt haben, nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich ihn an der Kurfürstenstraße liegenlassen, oder er ist mir in der Rütli-Schule abhandengekommen.
    Die Lösung all meiner Probleme werde ich wohl nie erfahren. Und einen Stoffbeutel besitze ich auch nicht mehr.
    Aber wahrscheinlich ist es ohnehin albern, in Konstanz mit einem Stoffbeutel rumzulaufen. In süddeutschen Kleinstädten benutzen ja nur alternative Öko-Muttis »Jutetaschen« – wie sie außerhalb Berlins genannt werden – zum Einkaufen im Bio-Supermarkt, weil das so praktisch und umweltfreundlich ist.
    Ich lege den Walkman in die Reisetasche und werfe noch ein paar Klamotten dazu; nur das Nötigste, der Rest bleibt erst einmal hier. Vielleicht kriege ich Kurt dazu, mir ein paar Sachen nachzuschicken, zusammen mit einem Kasten Club Mate. Vielleicht werfe ich aber auch einfach alles weg … Was für ein bescheuerter Gedanke, eigentlich ist das ja kein großes Ding, wer weiß, vielleicht komme ich in ein paar Wochen einfach wieder zurück. Trotzdem macht mir der Aufbruch ganz schön zu schaffen, da werde ich gleich pathetisch und will alles wegwerfen.
    Eine Sache jedenfalls muss ich wirklich wegwerfen: meinen Job. Dabei kam mein Artikel gut an und soll im nächsten Heft erscheinen, hat der Boss gemailt. Und gleich noch hinzugefügt, dass er hofft, mich bald mal wieder im Kleinanzeigenbüro anzutreffen. Aber das hat doch alles keine Zukunft, heutzutage wird doch niemand mehr Journalist – Medienkrise allerorten, und die ist mindestens so schlimm wie die Krise der Musikindustrie. Außerdem hat die Recherche für den Tiergarten-Text ja wohl gezeigt, dass ich nicht unbedingt der Richtige für einen Journalistenjob bin. Hätte der Doktor die Gentrifizierung nicht selbst in die Hand genommen, wüsste ich immer noch nicht, was ich schreiben sollte. Und Javier möchte ich auch nicht unbedingt noch einmal begegnen.
    Entscheidung Nummer zwei: Kein Brotjob mehr, ab jetzt mache ich mir Christinas Motto zu eigen: Das ist doch keine Arbeit, das macht mir Spaß. Also eher andersrum: Meine Arbeit macht keinen Spaß, und deswegen schmeiße ich sie hin. So ist der Satz doch auch gemeint, so könnte man ihn zumindest umdeuten? Vielleicht sollte ich mir das von ihr noch einmal genauer erklären lassen. Egal, das Wesentlichesteht fest: Job kündigen. Heute scheint der Tag der Entscheidungen zu sein (das klingt irgendwie wie ein Actionfilm aus den achtziger Jahren).
    Ich wähle die Nummer der Chefredaktion.
    »Hallo Boss«, sage ich, als er sich meldet, und erkläre schnell, dass ich kündigen möchte, bevor ich es mir doch noch anders überlege.
    »Das ist aber schade, Herr … äh, Sie waren immer einer meiner liebsten Mitarbeiter, wenn ich das so sagen darf. Immer sehr unauffällig und …«, haucht der Boss mit seiner Fistelstimme, und ich habe das Gefühl, sogar durchs Telefon seinen American-Spirit-Tabak riechen zu können. »Es ist natürlich schon der dritte Verlust innerhalb kürzester Zeit, nachdem Ihr ehemaliger Kollege – wie soll ich sagen? – abhandengekommen ist. Und auch unsere Lifestyle-Redaktion ist seit Tagen verwaist.«
    »Aber diese zwei Praktikanten, die seit kurzem im Kleinanzeigenbüro arbeiten, kann ich als Nachfolger wärmstens empfehlen. Sie geben sich bestimmt mit einer festen Stelle zufrieden, die sie sich teilen.«
    »Ja, das könnte eine Lösung sein. Gut, Herr … äh, falls Sie es sich anders überlegen, melden Sie sich einfach. Ich wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren beruflichen Weg.«
    Wir verabschieden uns, und ich fühle mich erleichtert. Es ist ein gutes Gefühl, morgen da nicht mehr hingehen zu müssen. Ich habe meinen Job zwar nie richtig gehasst,
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