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Legende der Angst

Legende der Angst

Titel: Legende der Angst
Autoren: Christopher Pike
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Man verließ diesen Ort besser, bevor noch mehr passierte, sagten die Leute. Nguyen gab ihnen recht. Auch er hatte Gründe zu gehen.
    Doch er wußte, daß er das, was in Todd Greens Grab geschlafen hatte, noch loswerden mußte, bevor er ging. Das war eine Aufgabe, der er nicht eben erfreut entgegensah.
    »Komm, Plastic«, rief er, kehrte dem ölverseuchten Ufer des Sees den Rücken und ging in Richtung der Bäume. Der Collie folgte ihm fröhlich und schwanzwedelnd. Anfangs hatte Plastic Angela und ihren Großvater ganz eindeutig vermißt, aber Hunde vergaßen schnell. Sie hatten es gut. »Laß uns sehen, ob wir nicht eine Beute finden können.«
    Der Schnee knirschte unter Nguyens Stiefeln, als er in den Wald schritt. Das Licht war schwach – es war kurz vor Sonnenuntergang. Ich hätte früher herkommen sollen, dachte er. Es ging bergauf, er mußte sich südlich halten, um nicht in die Gegend zu gelangen, in der Öl gebrannt hatte. Die Berge hinaufzusteigen erwies sich in dem weichen Schnee als Schwerstarbeit. Nguyen geriet außer Atem und mußte mehrmals eine kurze Rast einlegen, obwohl er gut in Form war. Daß er die ganze Zeit über die Augen wachsam aufhielt, trug noch zu seiner schnelleren Ermüdung bei. Er war hergekommen, um sich zu verabschieden, aber er war auch auf der Suche nach etwas, wie er es schon viele Male gesehen hatte – viele Male seit der Nacht, in der zweiunddreißig Jungen und Mädchen in Angela Warners Haus gestorben waren.
    Nguyen suchte nach Überresten toter Tiere.
    Wenige Minuten später stieß er auf etwas.
    Sie waren nicht besonders schwer zu finden, wenn man wußte, wo man suchen mußte.
    Das Tier war ein Reh. Viel war nicht von ihm übrig. Es war komplett ausgeschlachtet worden, und das offenbar mit Zähnen und Messern als Werkzeug. Helles rotes Blut tränkte den Schnee ringsum. Die leeren Augen des Tiers starrten zu ihm auf. Er bezweifelte, daß das Reh auch nur einen Schatten dessen gesehen hatte, von dem es getötet worden war.
    Nguyen hatte Phillip Fraziers Geschichte geglaubt.
    »Nein, Mädchen«, fuhr Nguyen Plastic an, als sie versuchte, Blut aufzulecken. »Das ist schlecht. Bleib weg davon. Es macht dich krank.«
    Der Hund sah eine Weile verwirrt zu ihm auf und schien dann zu verstehen. Er wandte sich um, um etwas anderem nachzujagen.
    Plötzlich blieb der Collie wie versteinert stehen, sein Fell sträubte sich. Doch es war keine Vorbereitung zum Angriff. Plastic winselte leise. Sie hatte Angst.
    »Was ist los, Mädchen?« flüstere Nguyen. Er ließ den Blick durch den Wald schweifen, sah jedoch nichts. Trotzdem bildete sich unter seinem wollenen Hemd eine Schicht Schweiß auf seiner Haut. Er erinnerte sich an die Kälte in Jim Klines Augen; daran, wie Angela sich Marys Blut von den Fingern geleckt hatte, an den Gestank des grünen Pilzes in Kanes Geschäft, an das Stöhnen tief unter der Erde des Friedhofs. Die Erinnerung an all das Unerklärliche erfüllte die Stille, mischte sich mit dem Gestank des Bösen. Und er sah für einen Moment wieder die brennende Gestalt vor sich, die von der Explosion hoch über das kalte Wasser des Sees hinausgeschleudert worden zu sein schien. Keine sterblichen Überreste von Angela Warner – niemand schien eine Ahnung zu haben, was aus ihr geworden war.
    Nguyen starrte hinab in das leere Auge des Rehs. Das war das zehnte Tier, das er in den vergangenen sechs Wochen ausgeweidet in diesem Teil des Waldes gefunden hatte.
    All diese Erinnerungen. Sie brachten ihn dazu, sich weitere Fragen zu stellen.
    Was war da draußen? Was beobachtete ihn?
    Irgend etwas.
    Und dann gab es da eine viel wichtigere Frage:
    Warum war er so kurz vor Einbruch der Dunkelheit hier in diesen Wald gekommen?
    Dumm.
    Nguyen wandte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er legte eine Hand auf die Waffe unter seinem Mantel. Es war eine nutzlose Geste. Er wußte, daß er nicht die Zeit haben würde, die Waffe zu benutzen, wenn er sie brauchen würde. Er rief nach Angelas Hund.
    »Laß uns von hier verschwinden, Mädchen«, rief er.
     
     
    Hoch in einem Baum ganz in der Nähe beobachteten rote Augen, wie der Mann und das Tier sich entfernten. Für einen Moment geriet das Wesen, zu dem die Augen gehörten, in Versuchung. Eine Weile erwog es, anzugreifen, sich von dem Ast herunterzuschwingen und sich zu nehmen, was es wollte. Aber es zögerte. Es hatte gerade gegessen, es war nicht übermäßig hungrig. Und dann hatte es Skrupel, was den Mann betraf, was
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