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Legende der Angst

Legende der Angst

Titel: Legende der Angst
Autoren: Christopher Pike
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nächste, was sie spürte, war, daß Kevin die Arme um sie legte und sie tröstete. Sanft flüsterte er ihr ins Ohr, daß alles gut werden würde. Aber seine Berührung brachte ihr keine Erleichterung. Sie steigerte nur das Hämmern in ihrem Kopf, das ohnehin schon unerträglich war. Er drehte sie zu sich um, und sie nahm seinen Geruch unerträglich viel deutlicher wahr als den, den sie immer sonst von Steaks auf dem Grill eingesogen hatte, wenn sie kurz vor dem Verhungern gewesen war.
    Ich halte das nicht mehr lange aus. O Gott.
    »Wir werden hier rauskommen«, versprach Kevin.
    Sie betrachtete ihn – so ein hübscher Junge, so nett. Er hatte ihr Herz bisher nie schneller schlagen lassen, und plötzlich fragte sie sich, wieso eigentlich nicht. Sie streichelte ihm übers Haar. Sie ertastete eine Beule, da, wo sein Kopf gegen die Wand gekracht war. Seine Haut war leicht aufgeplatzt. Sie atmete tief ein und fuhr mit den Fingern über diese Stelle.
    Daß sie ihn berührte, schien Kevin zu gefallen. Er schloß kurz die Augen. Sie zog ihre Finger zurück und leckte sie schnell ab. Ein Tropfen Blut, eine kleine Prise Glück. Wieder tastete sie nach seiner unerheblichen Wunde. Sie ließ die Finger tiefer eintauchen, benutzte diesmal ihre Nägel.
    »Autsch«, sagte er und zuckte ein Stück zurück. Er öffnete die Augen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie eilig. Sie hatte diesmal mehr Blut an den Fingern. Aber sie konnte es nicht ablecken, solange er ihr zusah – es würde ihm nicht gefallen.
    Er runzelte leicht die Stirn. »Du siehst auf einmal irgendwie anders aus.«
    »Du siehst gut aus.«
    »Findest du wirklich?«
    »Ja«, sagte sie. Seine Augen schienen plötzlich voller Blut. Sie konnte die Adern rund um die Iris zählen. Sie vermochte sogar fast die Äderchen mitten in den Pupillen zu zählen, den Toren zu seinem Gehirn. Es kam ihr vor, als ob sie letzteres berühren könne, wenn sie nur die Hand danach ausstreckte. Wenn sie es ein wenig drückte, würde er sich sicher ein wenig besser fühlen – und sie sich viel besser. Es waren die Gedanken an solche kleinen Dinge, die das Pochen in ihrem Kopf zu vermindern mochten. Sie mußte diesem Pochen wirklich ein Ende setzen, sonst würde sie letztendlich noch durchdrehen.
    »Küß mich«, sagte sie unvermittelt.
    »Was?«
    »Küß mich.«
    Kevin lachte leise. »Angie, wir müssen von hier verschwinden.«
    »Ich weiß. Küß mich.« Sie packte ihn und zog ihn näher zu sich heran. »Jetzt.«
    Er küßte sie. Er war nicht so stürmisch und so gut wie der liebe, alte Jim. Aber er war süß. Er küßte sie mit mehr Gefühl, und irgendwie schmeckte das besser. Sie kaute ein ganz kleines bißchen an seinen Lippen. Er schmeckte genau richtig. Er löste sich von ihr, spürte das Blut auf seinen Lippen und wischte es weg.
    »Du hast mich gebissen«, sagte er und betrachtete seinen Handrücken.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Hat es weh getan?«
    »Nein, aber…«
    »Küß mich noch mal.«
    »Das kann ich jetzt nicht.«
    »Doch.« Sie umschloß seinen Kopf mit beiden Händen und preßte seine Lippen auf ihre. Hungrig saugte sie daran, und als er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, ließ sie es nicht zu. Es fühlte sich einfach zu gut an, doch je mehr sie sich nahm, desto mehr wollte sie. Sie saßen mitten in einer Benzinlache, und zwischen ihnen sprühten Funken. Doch es waren die falschen Funken, die, die ihnen nicht den Mut abforderten, dem Tod ins Auge zu sehen.
    Das wußte sie. Daran erinnerte sie sich.
    Tief in ihr schrillte plötzlich eine Alarmglocke. Sie sagte ihr, daß sie genau das tat, was sie geschworen hatte, nie zu tun. Aber die Glocke konnte nicht mit dem Pochen in ihrem Schädel konkurrieren. Die Alarmglocke war die eines Supermarktes; für das Pochen war Thor selbst mit seinem Hammer verantwortlich. Ihr Bedürfnis zu essen ließ alles andere unbedeutend werden. Wieder fing sie an zu weinen, doch sie ließ Kevin nicht los. Sie hatte ihm gesagt, daß er sie nicht anfassen sollte. Sie hatte ihm gesagt, daß sie nie mehr als Freunde sein konnten. Es war alles seine Schuld!
    »Angie«, schrie er, als es ihm gelang, sich von ihr loszureißen. Er atmete wieder schwer; seine Lider flackerten. Die Hälfte seines Gesichts war blutverschmiert. »Was ist los? Was stimmt nicht mit dir?«
    Sie legte viel Gefühl in ihre Stimme: »Es ist nur so, daß ich dich so sehr will.«
    Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe fast das Gefühl, als wolltest du die
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