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Legende der Angst

Legende der Angst

Titel: Legende der Angst
Autoren: Christopher Pike
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Footballteam. Kathy ist Cheerleader. Alle drei sind allgemein sehr beliebt.« Angela erschauerte, als sie sich dessen bewußt wurde, was sie gesagt hatte. Sie redete so, als seien noch immer alle am Leben. Sie senkte den Kopf und atmete tief durch. Nguyen schien Mitgefühl mit ihr zu empfinden.
    »Es ist nicht leicht zu verkraften, Menschen sterben zu sehen«, sagte er.
    Sie hob das Gesicht – ihre Augen waren feucht. »Ist es das, womit man im Krieg tagtäglich konfrontiert ist?«
    Er antwortete nicht gleich. »Im Krieg rechnet man mit so etwas.« Er zuckte die Schultern. »Aber das macht es auch nicht einfacher.« Für eine Weile sah er aus dem Fenster, das die Aussicht auf die Rückseite eines Lagerhauses bot. »Möchten Sie mit ihr sprechen?« fragte er.
    »Mit Mary?«
    »Ja.«
    Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Sie weigert sich, mit Ihnen zu reden?«
    »Ja. Sie sagte, daß sie das Recht hat zu schweigen. Sie will nicht einmal mit ihren Eltern reden. Sie ist mindestens so stumm wie ein Fisch.«
    »Wird sie auf Kaution freikommen?«
    »Das bezweifele ich, aber es ist Sache ihres Anwalts, das auszuloten. Soweit ich weiß, hat ihre Familie Geld.«
    »Ziemlich viel sogar«, erwiderte Angela.
    Nguyen schüttelte den Kopf. »Die Angehörigen ihrer Opfer sind völlig am Ende. Es kann sein, daß Mary im Gefängnis sicherer ist als draußen. Vielleicht sollten Sie ihr das klarmachen.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß sie versuchen könnten, sich an ihr zu rächen?«
    »Man weiß nie.«
    »Worüber soll ich denn sonst noch mit ihr reden?« wollte Angela wissen.
    »Darüber, warum sie es getan hat. Wenn sie nur das sagen würde, wären wir schon einen Schritt weiter.«
    Angela starrte auf ihre Schuhe hinab. Es waren andere als die, die sie am vergangenen Abend auf der Party getragen hatte. Die hatte sie schon weggeworfen. Sie war sicher gewesen, es nicht über sich bringen zu können, die Blutspuren abzuwaschen.
    »Wem wird das nützen?« fragte sie leise.
    »Das kann man nie im voraus wissen«, sagte Nguyen.
    Er führte sie zu einem kleinen grauen Raum. Das Neonlicht an der Decke war schmerzlich hell. Nguyen sagte ihr, daß er Mary holen würde, und ließ sie ein paar Minuten allein. Angela nutzte die Zeit, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Mary und sie sich kennengelernt hatten. Sie hatten wirklich nette Tage miteinander verbracht.
    Angela war seit einer Woche in der Stadt gewesen. Oder, korrekt ausgedrückt, außerhalb der Stadt. Das Haus ihres Großvaters stand ganz am anderen Ende des Sees, und das Wasser hielt den Rest der Welt auf Distanz. Das hieß aber nicht, daß ihr Großvater ein Einsiedler war. Obwohl er schon zweiundsiebzig war, unternahm er noch eine ganze Menge. Er liebte Frauen, und da es nur wenige Männer seines Alters gab, die zu mehr als nur zu reden imstande waren, rissen sich die Frauen um ihn. Schon von Anfang an hatte er Angela ihre eigenen Wege gehen lassen, und das war ihr nur recht gewesen. Sie war auf der südlichen Seite des Sees spazierengegangen, als sie über Mary gestolpert war.
    Mary hatte getanzt. Sie hatte einen hautengen grünen Body und Nylons getragen und den Ghettoblaster auf höchste Lautstärke gestellt. Angela hatte dagestanden und Mary mehrere Minuten lang beobachtet bevor sie sich dann bemerkbar gemacht hatte. Unhöflichkeit war dabei nicht im Spiel gewesen. Sie hatte mit Ehrfurcht zugesehen – Mary hatte wie ein Profi getanzt. Aber nicht, als wolle sie jemanden von MTV nachahmen. Die Art, wie sie sich zwischen den Bäumen bewegt hatte – sie hatte ausgesehen wie eine griechische Nymphe, aus einer Laune des Nachmittags geboren. Mary war voller Leben gewesen, voll von unbändiger Energie. Ihr Tanz war faszinierend kunstvoll gewesen, das Interessante daran war vor allem, daß sie ihn zu dem gewöhnlichen Rockgedröhne aus einem tragbaren Radio vollführt hatte.
    Als Angela dann schließlich etwas gesagt hatte, war Mary stehengeblieben und hatte sie angestarrt. Sofort hatte sie die Musik abgestellt, aber sie war nicht ärgerlich oder böse gewesen. Sie hatte lediglich gesagt: »Du bist neu hier, stimmt’s? Ich heiße Mary.«
    Willst du, daß wir Freunde werden?
    Mary hatte das letzte nicht wirklich gesagt, aber es hätte gut so sein können. Sie hatte Angela an diesem Tag unter ihre Fittiche genommen. Angela war nie zuvor jemandem mit so ausgeprägtem Selbstbewußtsein begegnet – viel zu cool, um sich Gedanken darüber zu machen, ob sie auch cool wirkte. Und Mary war
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