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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen!
Autoren: György Dalos
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der Weltwirtschaftskrise in der Abendsonne eines Cafés an der Croisette in Cannes. Wir diskutierten die Ausrichtung einer solchen TV-Reihe mit den ARTE-Redakteuren Elisabeth Hulten, Martin Pieper und Peter Gottschalk. Über den Tisch wirbelten Sätze wie «Rom ist untergegangen, ja Athen auch, doch die Ideen haben stets überlebt!», «Ich bin fest davon überzeugt, der Sozialismus wird wiederkommen! Alles ist irgendwann wiedergekommen!», «Die Ideen sind missbraucht worden, keiner kann sich mehr darauf berufen! Nie wieder so viel Leid und Grausamkeit!», «Der Mensch lernt nie aus der Geschichte, die Zeitdimensionen überfordern ihn!». In einem Punkt bestand allerdings Einigkeit und Klarheit: Beim Zusammenbruch der Sowjetunion ging ein Kapitel der großen europäischen Geschichte zu Ende, und dieses muss groß erzählt werden.
    Doch wie und von wem? Nach all den Diskussionen fanden wir dann doch schnell einen Nenner: «Bitte nicht wieder die Besserwisserperspektive des Westens, der uns den Osten erklärt. Wir sind nicht BBC, wir sindARTE – der europäische Kultursender!» An diesem Abend entschieden wir, die Geschichte solle grundsätzlich von denen erzählt werden, die sie erlebt haben! Nicht Politiker, nicht Dissidenten, die in der Rückschau meist behaupten, es schon immer gewusst zu haben, sondern die Menschen aus den osteuropäischen Ländern mit ihren Erfahrungen sollen im Mittelpunkt stehen. Durch diese Menschen wollen wir verstehen, wie es sich in diesem sowjetischen Großreich gelebt hat und wie die Risse zustande kamen, die irgendwann das System kollabieren ließen. Verstehen soll im Vordergrund stehen und nicht die Präsentation einer vorgefertigten Meinung.
    Der französische Philosoph und Herausgeber Jean-François Colosimo zeichnete den historischen Rahmen. Wir legten fest, am Höhepunkt der territorialen Ausdehnung der sozialistischen Idee im Jahre 1975 unsere chronologische Reise zu beginnen und durch alle Länder des Ostblocks hindurch bis zum Ende zu erzählen. 1975 war ein historischer Wendepunkt, es war der Anfang vom Ende.
    Nun musste jedoch ein Autor für das Gesamtprojekt gefunden werden. Gemeinsam mit meinem Mitarbeiter und später für die TV-Reihe verantwortlichen Producer Georg Tschurtschenthaler machte ich mich auf die Suche nach dem geeigneten Autor. Wir trafen viele Historiker und osteuropäische Intellektuelle und fanden unseren Wunschkandidaten in György Dalos. Sein Stil, Blick und Wissen überzeugten uns von Anfang an, und wir waren glücklich, ihn für dieses Projekt gewinnen zu können. Im Gegensatz zu vielen Anderen hatte er keine Berührungsängste mit dem Massenmedium Fernsehen und schenkte uns gleich sein Vertrauen. Schon beim ersten Treffen sprudelten die Ideen nur so aus ihm heraus, und bevor wir überhaupt mit György Dalos in vertragliche Verhandlungen eintreten konnten, lag bereits der erste zehnseitige Entwurf auf dem Tisch. Im Frühjahr 2009 präsentierten wir die Filmidee das erste Mal osteuropäischen Produzenten und Sendern auf einer Dokumentarfilmmesse in Sofia. Wir waren angespannt und nicht sicher, wie unsere Idee eines solch großen historischen Projektes dort aufgenommen werden würde. Schließlich kommen wir aus Frankreich und Deutschland, und die Deutungshoheit über Geschichte ist eine extrem sensible Angelegenheit. Doch zu unserer Erleichterung wurde die Idee überaus positiv aufgenommen, und wir fanden sofort eine Menge osteuropäischer Partner, die an diesem Projekt teilnehmen wollten!
    Somit konnten wir von Anfang an gesamteuropäisch miteinander diskutieren, welche Prozesse zum Zusammenbruch des Systems geführt hatten: War es der Fall der deutschen Mauer? Solidarność oder der Papstbesuch in Polen? Der Aufstand in Prag? Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan oder doch der Alkoholkonsum in der Sowjetunion?
    Erst hier wurde klar, worauf wir uns alle mit diesem Projekt eingelassen hatten! Die Geschichte war noch so jung, dass überhaupt keine Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen Bruderstaaten stattgefunden hatte. Unsere gemeinsame Reise geht durch die Geschichte aller Oststaaten in ihrem Innen- und Außenverhältnis zu den jeweiligen Machtzentren. Wir beleuchten das Verhältnis des Volkes zur jeweiligen Regierung und umgekehrt sowie das Verhältnis der Satellitenstaaten untereinander und zum Machtzentrum in Moskau und wieder zurückgespiegelt. Und natürlich spielten hier Befindlichkeiten aller beteiligten Partner hinein! Eine komplexe
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