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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen!
Autoren: György Dalos
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Neugierige Bürger mit entsprechenden Sprachkenntnissen kauften in der Halle des Hotels Inturist ältere Nummern der
New York Times
oder der
Neuen Zürcher Zeitung
für je 60 Kopeken und verpackten sie vorsichtshalber in die großformatige «Prawda» oder die «Iswestija», die einen Verkaufspreis von vier Kopeken hatten.
    Insgesamt blieben die Preise für die notwendigsten Produkte in den Siebziger- und Achtzigerjahren unverändert. Bei einem Existenzminimum von 40–50 Rubeln, das gleichzeitig der Durchschnittsrente entsprach, konnte man sich wenig leisten: Ein Kilo Brot kostete 30 Kopeken, 100 Gramm Wurst 2,60 Rubel, die billigste Kinokarte 25 Kopeken, eine Fahrkarte für die Straßenbahn 3, für die Metro 5 Kopeken, die preiswerteste Wodkasorte 3 Rubel, der etwas feinere «Stolichnaja» 4 Rubel, der seltener erhältliche armenische Cognac 5 Rubel und der exotisch wirkende kubanische Rum sogar 8 Rubel. Für eine von der Zensur zähneknirschend zugelassene Beatles-LP als bulgarische Lizenzpressung verlangte man im staatlichen Musikladen 4 Rubel. Allerdings war der Erwerb dieser LP auf normalem Wege mangels Masse wenig wahrscheinlich, und auf dem Schwarzmarkt kostete sie gleich 25 Rubel. Das Monatsgehalt eines Ingenieurs betrug 100 Rubel – das entsprach ungefähr dem Preis für einen Jeansanzug.
    Der idealtypische Homo sowjeticus der Siebzigerjahre ging seiner Arbeit nach, widmete sich in seiner Freizeit der Familie, verfügte über eine Anderthalb- oder Zweizimmerwohnung in einer Neubausiedlung mit Zentralheizung und Bad, über ein Sparbuch, kaufte sich nach und nach einen Plattenspieler, einen Fernseher etwa der Marke «Junost», einen Kühlschrank «Saratow» oder «Minsk», eine Waschmaschine und einen Staubsauger. Er stand geduldig Schlange beim täglichen Einkauf, wartete ewig auf einen Telefonanschluss oder gar auf einen Lada, der als Fiat-Lizenz in der Stadt Togliatti produziert wurde. Die beiden dreitägigen Staatsfeiernzum 1. Mai und 7. November feierte er im Freundeskreis mit Lachs, Torte und reichlich Wodka. Außerdem feierte er, je nach Profession, den «Tag des Fischers», den «Tag des Eisenbahners» oder den «Tag des Lehrers». Seinen Sommerurlaub verbrachte er entweder in einer bescheidenen hölzernen Datscha in der Freizeitkolonie, oder er vergnügte sich während seiner Familienausflüge mit Angeln. Für Leute aus der Provinz war ein Aufenthalt in Moskau, möglichst mit einer Aufführung des Balletts «Schwanensee» im Kongresspalast, oder in Leningrad mit Besuch in der Eremitage ein besonderes Erlebnis. Seltener kam es zu einem Urlaub auf der Krim oder im Kaukasus und als Höchstgenuss zu einer Reise nach Ungarn, in die ČSSR oder die DDR – selbstverständlich in einer gut kontrollierbaren Gruppe.
    Postkarte aus Moskau
    Bahnhof Tinda an der Baikal-Amur-Eisenbahnlinie («Trasse der Kühnheit» genannt)
    Die Siebzigerjahre waren die ruhigste, besser gesagt die einzig relativ ruhige Zeitspanne in der Geschichte der Sowjetunion. Die Menschen erhielten mehr Freiräume und Konsummöglichkeiten als früher, während die ideologische Mobilisierung immer lascher wurde. Gleichzeitig kostete es das System enorme Summen und Anstrengungen, diese heute nostalgisch betrachtete Stabilität aufrechtzuerhalten. Das Verteidigungsbudget belief sich unter Breschnew und seinen unmittelbaren Nachfolgern auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Ergebnisse dieses Aufwands wurdenbei den jährlichen Maiparaden auf dem Roten Platz vorgeführt, um die militärische Stärke des Landes sowohl dem In- als auch dem Ausland zu präsentieren. Die «Schönheitskönigin» der sowjetischen Rüstungsproduktion war zweifellos die Rakete SS-20.
    Ballett war und blieb ein Sinnbild der sowjetischen Hochkultur: Primaballerina Maija Plissezkaja
    Während die Abrüstungsverhandlungen mit den USA liefen, wurde paradoxerweise das Rüstungsniveau künstlich aufrechterhalten. Dies diente dem innenpolitischen Ziel, die Ansprüche des militärisch-industriellen Komplexes zu befriedigen, der circa zwei Millionen Menschen umfasste und in viel höherem Maße als der passive Staats- und Parteiapparat auf die Regierenden Einfluss nehmen konnte. Die größte und effektivste Macht war jedoch das Komitee für Staatssicherheit, verkürzt KGB, eine Art Staat im Staate mit ungefähr 700.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und Millionen von Zuträgern. Ihr Sitz auf dem Moskauer Derschinskiplatz inder ehemaligen Lubjanka war, zusammen mit seinem
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