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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen!
Autoren: György Dalos
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nicht mehr aufzuhalten, andererseitssorgte hier jedes Zugeständnis für Spannung bei anderen Nationalitäten, die nicht über eine «historische Heimat» außerhalb der UdSSR verfügten. Juden galten als «Nationalität», was in der entsprechenden Rubrik des Personalausweises unter Punkt 5 eingetragen wurde. Dabei dachten die sowjetischen Führer bis zuletzt nicht daran, mehr konfessionelle oder kulturelle Freiräume etwa für sowjetische Juden zu gewähren. So existierte beispielsweise in der Metropole Moskau mit mehr als 100.000 jüdischen Einwohnern nur eine einzige Synagoge. Der Rabbiner Fischman und auch sein Nachfolger Schajewitsch waren von den Entscheidungen des Staatskomitees für Religion abhängig, und ihre Tätigkeit diente dazu, das Image der Regierung bei internationalen Konferenzen aufzupolieren.
P OPMUSIK, T HEATER UND Z ENSUR
    Insgesamt barg die friedliche Koexistenz zwischen Ost und West in der Zeit nach Helsinki für die Sowjetunion innenpolitisch größere Risiken als zuvor die latente Kriegsgefahr, die immerhin durch das atomare Gleichgewicht der Supermächte begrenzt wurde. Bei allem Erfolg bei den Bestrebungen, das Riesenland vom Westen abzuschotten, war doch der kulturelle Einfluss der freien Welt auf die UdSSR unaufhaltsam. Westliche Popmusik und die Unterhaltungsindustrie prägten zunehmend auch die Jugendkultur der östlichen Großstädte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den konservativen Kulturfunktionären eroberten Tänze wie Twist oder Letkiss die Tanzparketts der Siebzigerjahre. In den frühen Achtzigern wurde die reiche Jazztradition der Zwanzigerjahre wiederentdeckt. Gleichzeitig wurden ganze Musikströmungen, die westliche Vorbilder hatten, bestenfalls geduldet. Ein Beispiel hierfür ist der steinige Weg der von Bob Dylan inspirierten Gruppe «Zoopark», die 1980 gegründet wurde.
    Während die Avantgarde in der Massenkultur mit dem allmählichen Abbau der Tabus begann, spielte sich einige Etagen höher ein erbitterter Kampf zwischen Künstlern und Bürokraten ab. Neben dem Kampf mit dem politischen Dissens versuchte der Staat auch Teile der Intelligenz strenger zu kontrollieren, die sich bis dahin im Rahmen der offiziellen Institutionen bewegt hatten. Die exzessive Zensur führte zu Beginn der Achtzigerjahre dazu, dass weltbekannte Künstler wie Jurij Ljubimow, Direktor des Moskauer Theaters an der Taganka, oder der Filmregisseur AndrejTarkowskij von einem Westaufenthalt nicht zurückkehrten. So wurden sie letzten Endes aufgrund ihres künstlerischen Credos zur Unperson in ihrer Heimat.
    Jurij Ljubimow. Der weltberühmte Regisseur des Moskauer Taganka-Theaters wurde während einer Westtournee von dem Obersten Sowjet ausgebürgert
M ISCHA FLIEGT GEN H IMMEL
    Schließlich bereitete sich die Altherrenriege um den greisen Breschnew auf ihren grandios inszenierten internationalen Ruhm vor: Als symbolischer Abschied von den «goldenen Zeiten» der Stagnation kann im Nachhinein die Abschlussfeier der Moskauer Olympischen Sommerspiele betrachtet werden, die am Sonntag, dem 3. August 1980, im Moskauer Luschniki-Stadion stattfand. Auf der Ehrentribüne saßen die Mitglieder des Politbüros der KPdSU mit dem sichtlich geschwächten Parteichef Breschnew an der Spitze, Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees, ausländische Diplomaten und Ehrengäste. Die Liveübertragung des Moskauer Fernsehens verfolgten viele Millionen Bürger der Sowjetunion und derOstblockstaaten. Als Höhepunkt stieg unter süßlicher Glockenmusik, an ein Luftschiff gekettet, der «olympische Mischa», der siegreich lächelnde sowjetische Bär, in den Moskauer Nachthimmel. Dieser Talisman, ein Werk des Buchillustrators Wiktor Tschissikow, stammte aus der Pelzfabrik der Stadt Scholtye Wody. Mischa diente als Symbol der drei sportlichen Tugenden Stärke, Ausdauer und Mut, die in lateinischer Sprache auch das Stadion schmückten.
    Anachronistisch charmant – von den Luxusgeschäften bis zu den Marktständen rechnen Verkäufer mit dem Abakus
P OLEN – EIN ANDERES W ARENZEICHEN
    Diente der olympische Mischa als Markenzeichen für eine bärenstarke Supermacht, so tauchte plötzlich ein anderes, ein bedrohliches Symbol am Horizont auf. Zeitgleich mit dem Beginn der Olympischen Spiele begann in dem größten Ostblockland Polen eine landesweite Streikbewegung gegen die restriktive Politik der Kommunistischen Partei. Als Reaktion auf die Entlassung der Kranführerin Anna Walentinowicz, eine der
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