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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen!
Autoren: György Dalos
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Sicherheitsleuten waren unter einigen Stühlen der 45 Teilnehmer Abhörgeräte befestigt, die Führung saß also praktisch mit am Tisch. Es zeichnete sich so etwas wie ein Minimalkonsens über die Notwendigkeit von Reformen ab. Die Wirtschaftswissenschaftler arbeiteten bereits an ihrem Papier «Reform und Wende», das sie jedoch erst Jahre später veröffentlichen durften.
I N DER F ALLE ZWISCHEN O ST UND W EST – DIE DDR
    Anders als in dem verschämt-prüden Ungarn blühte in der DDR die Freikörperkultur, und auch das Aerobic verbreitete sich zur gleichen Zeit wie in der Donaurepublik, was sicher auch mit Jane Fonda und ihrem Vietnam-Engagement zu tun hatte. Allerdings trug die neue Mode hier den Namen «Jazzgymnastik», und die dazugehörigen Klamotten waren allesamt «Made in GDR». Der «Arbeiter- und Bauernstaat» war zweifelsohne der erfolgreichste unter den osteuropäischen Verbündeten. Der relative Wohlstand schien sicher, es gab keine Preiserhöhungen, wie sie die polnischen oder ungarischen Gemüter ständig beunruhigten.
    Die Doktrin der «Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik» erwies sich allerdings nur mit der massiven Unterstützung westlicher Kreditgeber als haltbar. Die erste große DM-Injektion erhielt die DDR 1983 mit dem von Franz Josef Strauß vermittelten Kredit, den sie mit dem Abbau der Selbstschussanlagen an ihrer Staatsgrenze «bezahlte». Die tägliche Tuchfühlung mit der Bundesrepublik, welche die offizielle Klassenkampfrhetorik Lügen strafte, verursachte besondere Probleme für die erstarrten greisen Politbüromitglieder. Einerseits gab man sich gemütlich, wie bei dem Empfang von Udo Lindenberg nach dessen Konzert in Ostberlin 1983, andererseits bespitzelte man die eigene Bevölkerung in einem Ausmaß, das durch keine realen Gefahren begründet war.
    Gleichzeitig konnte der Terror des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) 1984 die ersten Fluchtaktionen in die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und anderen sozialistischen Hauptstädten nicht verhindern. Ostberlin reagierte mit einer erheblichen Lockerung seiner Reise- und Auswanderungspraxis. Die vielschichtige Opposition wurde durch ihre Westkontakte und die Einbettung in die evangelische Kirche zunehmend zum Problem, das allein mit Polizeimethoden nicht mehr zu lösen war. Das durch Ausbürgerungen entstandene politische Exil führte – besonders am Vorabend von deutsch-deutschen Begegnungen – zu unorthodoxen Lösungen: So erhielt der ausgebürgerte Wolf Biermann im Jahre 1982 die Möglichkeit, seinen Freund Robert Havemann an dessen Sterbebett zu besuchen, was gleichzeitig zum Medienereignis wurde. Dennoch verfolgten die Geheimdienste Dissidenten wie Jürgen Fuchs auch jenseits der Staatsgrenze, es gab nach wie vor Tote an der Mauer, und in seiner Zellein Jena starb 1981 der junge Bürgerrechtler Matthias Domaschk. Das Lavieren zwischen Zugeständnissen und hartem Durchgreifen sorgte, neben der als unbefriedigend empfundenen Versorgungslage, für innenpolitische Differenzen.
    Zudem gab es immer mehr Spannungen mit den sowjetischen Führern. Diese verhinderten 1984 eine seit Langem geplante Reise Erich Honeckers in die BRD. Die SED-Politbüromitglieder wurden nach Moskau zitiert und dort gründlich «bearbeitet». Noch am selben Tag flog die geschlagene Truppe nach Ostberlin zurück, in den Medien fand die übliche Propagandakampagne gegen die Bonner Revanchisten statt, und am 3. September wurde die Staatsreise abgesagt. Eine viel größere Demütigung war jedoch die Aufforderung, sich dem Boykott der XXIII. Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles anzuschließen, den die Sowjetunion beschlossen hatte – für die Sportsupermacht DDR ein unerhörter Prestigeverlust.
T ODOR S CHIWKOWS UNRÜHMLICHE K AMPAGNE
    Bulgarien schloss sich dem besagten Boykottaufruf sofort an – das kleine Balkanland befolgte Moskaus Befehle mit vorauseilendem Gehorsam. Ökonomisch war es hochgradig abhängig von den sowjetischen Rohstofflieferungen und ideologisch am engsten mit der stalinistischen Orthodoxie verwandt. Es verfügte über ausgezeichnete Sportler, etwa den der türkischen Minderheit angehörenden Amateurboxer Ismail Mustafow, der in Los Angeles gute Medaillenchancen gehabt hätte. Da zu dieser Zeit im Land eine Bulgarisierungskampagne begann, sollte Mustafow ab sofort Iwajlo Marinow heißen. Auf die Goldmedaille musste Mustafow/Marinow allerdings noch bis zum Jahr 1988 warten. Ein anderer Spitzensportler, der Gewichtheber
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