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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen!
Autoren: György Dalos
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des Donaustaates bestand nach wie vor darin, dass eine relative innere Liberalität herrschte, der intellektuelle Dissens zunehmend geduldet wurde und eine ängstliche, aber sichtbare Annäherung an den Westen erfolgte. So trat Ungarn 1981 dem Internationalen Währungsfonds bei – ein Schritt, dessen Vorbereitung angeblich mit strengster Geheimhaltung gegenüber den Sowjets erfolgte.
    Trotzdem wurde Ungarn im August 1982 zahlungsunfähig und war bis zuletzt auf Dollarinjektionen des Westens angewiesen. Bei einem internen Dissidententreffen wurde der Ökonom Pál Juhász gefragt, ob die demokratische Opposition unter Umständen die Reformbestrebungen der Regierung unterstützen sollte oder nicht. Er antwortete, das sei völlig egal. Selbst wenn das System sofort mit den Reformen beginnen würde, prophezeite er, dass die Sanierung ungefähr bis 1997 dauern würde. Diese Vorhersage entpuppte sich letztendlich als zu optimistisch.
    Tatsächlich war es bereits fünf vor zwölf: Mit dem bereits auf elf Milliarden Dollar angestiegenen Schuldenberg erwies sich das Land als zahlungsunfähig und hielt sich in diesem unangenehmen Schwebezustand bis zum Ende des Jahres 1982, als es endlich den Überbrückungskredit vom IWF abrufen konnte. Anderthalb Jahre später erinnerte sich der stellvertretende Ministerpräsident Ferenc Havasi in einem Fernsehinterview an diese Zitterpartie: «Wissen Sie, damals befand sich unsere Wirtschaft im Zustand des klinischen Todes.» Der Journalist Tamás Vitray kommentiertekopfschüttelnd: «A betyárját!» (etwa: Heiliger Strohsack!). Dieses augenzwinkernde Hinwegwitzeln über die drohende Katastrophe, dieses gemütliche Vabanquespiel à la Adelskasino war der speziell ungarische Beitrag zum Untergang des osteuropäischen Sozialismus – die Apokalypse in der Operettenversion.
    Eine ungarische Erfindung, die die Welt eroberte: der Rubikwürfel
    Die triste Wirtschaftslage war durch die immer lascher werdende Zensur schwer zu verheimlichen und bedrohte den unausgesprochenen Konsens zwischen der Gesellschaft und ihrer Führungsspitze. Der einzige Faden, der die eine mit der anderen verband, war das Materielle. Die offizielle Ideologie interessierte in den Achtzigerjahren fast niemanden mehr.
    Die erste Hälfte der Achtzigerjahre stand noch ganz im Zeichen der Ära Kádár: Der über 70 Jahre alte Partei- und Staatsführer galt als «guter König», und die verhältnismäßig saturierte Mittelklasse war mit Aerobic beschäftigt und kaufte bei Westbesuchen die dazu notwendige Ausstattung. Allerdings schaute die Führung nicht bei allem tatenlos zu. Versuche zum Beispiel, den Nudismus in der Nähe von Délegyháza unter dem Namen«Naturalismus» neu zu beleben, stießen auf den Widerstand der Polizei. Ebenso wurde ein Treffen ungarischer und westlicher Friedensaktivisten durch Ordnungskräfte aufgelöst. Trotzdem erwies sich das Kádár’sche Ungarn in den Achtzigerjahren immer noch als Bastion der kleinen Freiheiten mit einer besonderen kulturellen Ausstrahlung: 1981 erhielt der Trickfilmregisseur Ferenc Rófusz für sein dreiminütiges Werk «Die Fliege» einen Oscar. Ein Jahr später durfte István Szabó für seinen «Mephisto» die goldene Statue entgegennehmen.
    Als wahrer Welterfolg erwies sich aber der Zauberwürfel des Architekten Ernő Rubik: Das sechsfarbige Geduldsspiel wurde 1975 vollendet und vom Budapester Patentamt 1977 genehmigt, sein Weg zum Welterfolg erwies sich jedoch als steinig. Bürokratie und Inkompetenz der zuständigen Behörden führten dazu, dass die Erfindung erst relativ spät auf den Weltmarkt kam. Ungarn war außerstande, die bestellten zwei Millionen Exemplare zu liefern, und schloss einander widersprechende Lizenzverträge mit westlichen Partnern ab. Gleichzeitig begannen fernöstliche Firmen mit der «schwarzen» Massenproduktion des Würfels, dessen insgesamt 100 Millionen Exemplare weder dem Erfinder noch dem Staat den zu erwartenden Gewinn sichern konnten. Der Volksmund reagierte auf dieses Desaster mit dem Witz: «Was ist ein kommunistischer Zauberwürfel? Er hat sechs Seiten, alle sind rot, und man kann sie trotzdem nicht zusammenbringen.»
    Die drei kritischen Strömungen – Dissidenten, nationale gesinnte «volkstümliche» Intellektuelle und Reformökonomen – trafen sich im Sommer 1985 in Monor und führten dort Gespräche über die keineswegs rosig erscheinende Zukunft des Landes, die nach den damaligen Gesetzen als illegal galten. Nach Aussagen von
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