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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Humor zur rechten Zeit und am rechten Ort. Und all diese Eigenschaften wurden, zum Glück, auch noch von einem geradlinigen Charakter gelenkt.
    Das Interview war lang, sehr genau und dauerte drei ganze, erschöpfende Wochen, und ich führte es im Bewusstsein, dass ich es nicht roh veröffentlichen, sondern in einem anderen Topf zur Reportage gar kochen wollte. Ich begann etwas unredlich, weil ich versuchte, den Schiffbrüchigen in Widersprüche zu verwickeln, um verdeckte Wahrheiten aus ihm herauszulocken, war mir aber bald sicher, dass er nichts verheimlichte. Ich brauchte nichts zu forcieren. Es war, als ginge ich über eine blühende Wiese und hätte alle Freiheit, die Blumen auszuwählen, die mir am liebsten waren. Pünktlich um drei Uhr nachmittags erschien Velasco vor meinem Schreibtisch in der Redaktion, wir schauten die vorangegangenen Texte durch und fuhren anschließend in chronologischer Reihenfolge fön. Jedes Kapitel, das er mir erzählte, schrieb ich noch in der Nacht nieder, und es wurde dann am nächsten Abend veröffentlicht. Es wäre einfacher und sicherer gewesen, zunächst das ganze Abenteuer aufzuschreiben und es erst zu publizieren, nachdem es durchgesehen und alle Einzelheiten gründlich überprüft waren. Aber die Zeit drängte. Das Thema verlor von Minute zu Minute an Aktualität, und jede Aufsehen erregende Neuigkeit hätte ihm den Garaus machen können.
    Wir benutzten kein Tonbandgerät. Das war gerade erst erfunden worden, und die besten Geräte waren groß und schwer wie eine Schreibmaschine, außerdem pflegte sich das Magnetband zu verheddern wie der gesponnene Zucker auf einem Engelshaartörtchen. Schon allein die Abschrift war eine Heldentat. Auch heute noch sind Tonbandaufnahmen bekanntlich als Gedächtnisstütze nützlich, doch sollte man nie das Gesicht des Befragten außer Acht lassen, das sehr viel mehr als seine Stimme verraten kann und manchmal auch das Gegenteil. Ich musste mich damit begnügen, mir wie üblich Notizen in Schulhefte zu machen, aber ich glaube, dass mir auf diese Weise kein Wort und keine Nuance des Gesprächs entgangen sind und ich damit Schritt für Schritt mehr in die Tiefe dringen konnte. Die beiden ersten Tage waren schwierig, weil der Schiffbrüchige alles auf einmal erzählen wollte. Er lernte jedoch sehr schnell, sich nach der Reihenfolge und der Tragweite meiner Fragen zu richten, ließ sich vor allem aber von seinem eigenen Erzählinstinkt und seinem angeborenen Gespür für die Bauformen einer Geschichte leiten.
    Zur Vorbereitung des Lesers, bevor er ins kalte Wasser geworfen wurde, beschlossen wir, den Bericht mit den letzten Tagen in Mobile zu beginnen. Wir vereinbarten auch, die Erzählung nicht mit dem Augenblick enden zu lassen, an dem der Schiffbrüchige wieder Land betritt, sondern mit seiner Ankunft in Cartagena, wo er bereits von den Massen bejubelt wird - also zu einem Zeitpunkt, von dem an die Leser aufgrund der bereits veröffentlichten Fakten den Faden der Erzählung selbständig weiterspinnen konnten. Das ergab vierzehn Folgen, um zwei Wochen lang die Spannung aufrechtzuerhalten.
    Die erste Folge erschien am 5. April 1955. Diese Ausgabe von El Espectador, durch Rundfunkwerbung angekündigt, war binnen weniger Stunden ausverkauft. Die Bombe platzte am dritten Tag, als wir beschlossen, die wahre Ursache des Unglücks zu enthüllen, die nach der offiziellen Version ein Sturm gewesen war. Auf größtmögliche Genauigkeit aus, bat ich Velasco, er möge in allen Einzelheiten von diesem Sturm erzählen. Er war inzwischen schon so vertraut mit unserer gemeinsamen Methode, dass ich in seinen Augen ein schelmisches Funkeln sah, als er mir antwortete:
    »Das Problem ist, es hat gar keinen Sturm gegeben.«
    Allerdings hatte es, so führte er aus, zwanzig Stunden steifen Windes gegeben, was in jener Region und zu jener Jahreszeit durchaus normal ist, von den Verantwortlichen aber nicht einkalkuliert worden war. Die Mannschaft hatte vor dem Ablegen verspätet den Sold von mehreren Monaten ausgezahlt bekommen und ihn im letzten Moment für alle möglichen Haushaltsgeräte ausgegeben, die man in die Heimat mitbringen wollte. Das war so überraschend, dass niemand sich groß Gedanken machte, als die Laderäume im Schiffsbauch überquollen und man deshalb die größten Kisten an Deck vertäute: Kühlschränke, Waschmaschinen, Öfen. Eine derartige Fracht war auf einem Kriegsschiff verboten, und sie war außerdem so umfangreich, dass sie
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