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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad
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würde aufwachen. Jeden Augenblick würde er aufwachen.
    Sein Mund öffnete und schloss sich gegen seinen Willen, presste dümmliche Worte hervor wie „Aber ich liebe dich doch“ und „Ich dachte, du und ich, wir gehören zusammen“.
    Er sah Sascha zusammenzucken, den Blick auf das surrende Laufband hinter ihnen richten, als hielte es alle Weisheiten des Universums parat.
    Andreas' Kopf arbeitete auf Hochtouren. In ihm schrie es. Sein Verstand verlangte nach Antworten. Wie kamen sie von einer dummen Kleinigkeit wie seiner Eifersucht und einem verpatzten Abend an den Punkt, an dem Sascha ihn allein lassen wollte? Warum wurden ihm plötzlich Dinge wichtig, die vorher nie wichtig gewesen waren?
    Andreas schöpfte Hoffnung, als er Saschas Augen weich werden sah. So weich, wie sie gewesen waren, als sie miteinander im Bett lagen und er ihm sagte, dass es ihn „erwischt hätte“. Genauso zärtlich, genauso sanft. Warm.
    Umso heftiger trafen Andreas die Worte, die kurz darauf vertraut-weiche Lippen passierten.
    Er hörte sie noch, als Sascha längst fort war. Sich von ihm verabschiedet und ihm alles Gute gewünscht hatte. Ihn gebeten hatte, sich nicht mehr bei ihm zu melden. Damit sie sich beide an die neue Situation gewöhnen konnten. Damit sie sich nicht gegenseitig wehtaten. Damit sie es beenden konnten, ohne sich zu hassen. Weil ... Andreas Sascha viel bedeutete. Trotz allem.
    Zum Abschied bekam er einen Kuss. Auf die Wange.
    Als Aasgeier kreisten die Worte in Andreas' Kopf, als er mechanisch das Laufband abschaltete und wie ein Roboter seine Turnschuhe auszog, sie ordentlich neben die Tür stellte, als wäre sein einziges Bestreben, den Fitnessraum aufgeräumt zu hinterlassen. Als wäre nichts geschehen. Gar nichts.
    Aber vermutlich war das richtig. Nichts konnte man nicht wehtun. Nichts konnte nicht leiden. Nichts konnte nicht verlassen werden. Nichts gewöhnte sich nicht an die Sonnenseiten des Lebens. Und Andreas war nichts.
    „Es wäre für uns beide besser gewesen, wenn wir Freunde geblieben wären.“
     
    Kapitel 49  
     
      Es gab aufgebahrte Leichen, die mehr Leben in sich hatten als Andreas' starres Gesicht, das ihn vom schwarzen Monitor seines Computer aus ansah. Er fühlte sich tot.
    Aber empfanden Tote noch Schmerzen? Litten sie? Betrauerten sie ihren Verlust? Stellten sie sich Fragen? Nein.
    Vielleicht lebte er noch. Vielleicht war er ein Zombie.
    Ein Zombie mit seit drei Tagen nicht gekämmten oder gewaschenen Haaren. Mit Sportkleidung, die nach verschüttetem Bier stank und ihrerseits seit drei Tagen nicht gewechselt worden war. Bartstoppeln, geplatzte Äderchen in den Augen, Ringe unter den Lidern.
    Die Lippen zerrissen vom Wassermangel. Ein Nerv an seinem Hals konstant zuckend, weil er nicht geschlafen hatte. Oder nicht viel.
    Albträume. Albträume hatten ihn verfolgt, doch sie waren nicht schlimmer als das Erwachen gewesen.
    Ein Erwachen in einer Welt, in der er gefangen war, während draußen vor der Tür ein anderes Universum seine Kreise zog und ihn verhöhnte. Ihn auslachte.
    Weil er schwach war, obwohl er sich stets Mühe gegeben hatte, stark zu sein. Für jeden. Für seine Mutter, für seinen Vater, für den Eindruck der Familie und für Sascha. Gereicht hatte es nicht.
    Andreas wusste nichts. Konnte nichts. War nichts. Aber vor allen Dingen konnte er sich die Ereignisse nicht erklären. Zu viel kam zu unerwartet und das Verhalten von Sascha – Gott, Sascha, er krümmte sich auf seinem Schreibtischstuhl zusammen – war ihm unerklärlich. Und auch wieder nicht.
    Denn als jemand, der sich selbst nicht sonderlich mochte, verstand er jeden, der ihn wie eine leere Cola-Dose beiseite warf. Entsorgte.
    Sascha hatte ihn entsorgt und Andreas konnte ihm nicht böse sein. Nur wie sie von der großen Nähe, die sie in den Ferien miteinander verbunden hatte, innerhalb kürzester Zeit in Richtung Trennung geschleudert waren, wusste er nicht.
    Was war wann vorgefallen? Was hatte er versäumt? Wie konnte aus dem innigen Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie verband, Abfall werden? Innerhalb von Tagen? Kein langsames Auseinanderleben oder die mit der Zeit einsickernde Erkenntnis, dass sie nicht zusammenpassten und nur der Sex sie aneinander geschweißt hatte.
    Das Fremdsein in Hamburg bei Sascha, der Mangel an Gelegenheiten bei Andreas.
    Drei Tage.
    Drei Tage, in denen er getobt, randaliert, ins Kissen geschrien, seine Internetidentität gelöscht und vor allen Dingen geweint hatte. Bitterlich.
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