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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis
Autoren: Henning Boetius
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Liebe –, so kam mit der Renaissance ein horizontales Weltbild auf. Es war flächig und wohlgestalt wie dieser Schrank mit seinen klaren Verzierungen. Es war, als ob der Höllen- und Himmelfahrt der Gotik im wahrsten Sinne des Wortes ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Es war jener Strich, der Blaues vom Blauen trennt, Himmel vom Meer. Odysseus sah ihn und andere Götter der Antike, auch den Helden war er vertraut wie den einfachen Fischern und den Liebenden am Strand. Petrarca liebte diese feine Linie, die man an klaren Tagen vom Strand aus sieht, den Meereshorizont. Er ist das Symbol der Wiedergeburt. Er zieht den Blick an, lenkt ihn vom Himmel herab oder von der Hölle herauf und geleitet ihn in eine Weite, die den Kopf weder in Demut sich senken noch in Hybris oder Anbetung heben läßt. Nein, der Dichter und der Seemann, der Maler, die Liebenden und der Fischer, sie alle stehen nun aufrecht mit gerade gehaltenem Kopf. Es sind neue Menschen. Sie blicken zum Horizont, und ihre Blicke kehren von dort zurück und treffen auf das Antlitz der natürlichen Menschen und zeigen ihnen zum erstenmal sein wirkliches Gesicht. Sie sehen, daß sie weder eine Höllenfratze noch das verklärte Gesicht eines Engels haben.«
    Monsieur Bazin machte die entsprechenden Gesichter oder versuchte es doch, und da es eine komische Wirkung hatte, die ihm wohl bewußt war, begann er selbst zu lachen.
    »Francesco«, rief er, »nimm es mir nicht übel, ich bin kein großer Theoretiker und höchstens ein mittelmäßiger Clown. Alles, was ich sagen wollte, ist, wäre damals das Neue Testament geschrieben worden, damals, als Petrarca lebte, wäre Jesus wahrscheinlich nicht zum Himmel gefahren, sondern am Meer spazierengegangen. Stammt nicht deine Laura wie du vom Meer? Ich entsinne mich, daß du es so erzählt hast. Dann gnade euch Gott. Ihr seid in eurer Kindheit vom gleichen vertikalen Pfeil getroffen worden. Ihr seid Horizontmenschen. Es wird nicht einfach sein, euch auseinanderzubringen.«
    Bazin hielt inne und kratzte sich die Kopfhaut. »Ich wollte eigentlich gar nicht so viele Worte machen. Ich wollte dir etwas zeigen. Aber du mußt verstehen, daß es mir nicht ganz leicht fällt, mein Geheimnis zu lüften, auch vor einem Freund, einem Gleichgesinnten nicht. Es könnte schließlich sein, daß du zweifelst, und davor habe ich Angst, verstehst du, obwohl es lächerlich ist. Denn ich weiß ja, daß ich recht habe, ich brauche keine Bestätigung. Ich weiß, daß ich recht habe mit meiner Deutung. Es bedarf keiner Beweise, die einen Historiker überzeugen. Man muß nur eines kennen, die leidvoll süße Erfahrung einer vergeblichen Liebe.«
    Bazin schwieg und holte einen großen Schlüssel aus der Tasche. Lange verharrte er regungslos vor der Schranktür. Er schien mit sich zu kämpfen. Plötzlich schob er den Schlüssel ins Schloß und riß die Tür auf.
    Zuerst sah es für Francesco so aus, als fiele Kerzenschein in lauter leere Regale. Dann sah er, wie Bazins Hände in den Schrank glitten und daß es dort im Halbschatten einige Gegenstände gab. Sein Freund holte sie hervor und legte sie auf den Tisch. Ein Hemd aus feinstem Nessel, Sandalen mit zerrissenen Bändern, ein kleines Kästchen, das Bazin nun mit zitternden Fingern öffnete. Eine Locke von rotblondem Haar und eine Perlenkette kamen zum Vorschein.
    »Voilà«, sagte Bazin. »Die Dessous von Donna Laura, ihre Haare, eine Kette, die einst ihren Hals schmückte oder ihr Dekolleté; je nachdem, ob sie sie einfach oder doppelt trug.«
    »Wieso bist du so sicher, daß diese Sachen Laura gehörten?« Die Frage kam Francesco wie eine Störung, ja, fast wie eine Beleidigung vor. »Hier, sein Zeichen, seine Botschaft.« Bazin schob etwas über die Tischplatte auf Francesco zu. Es raschelte wie trockenes Laub. Jetzt sah er graue, unansehnliche Schnipsel, die die Hand Monsieur Bazins auf dem Tisch zu einem Häufchen zusammenkehrte. »Sie riechen nicht mehr. Es sind jedoch eindeutig Bruchstücke von Lorbeerblättern. Ich habe sie von einem Botaniker bestimmen lassen. Und sie waren in der Truhe bei den anderen Dingen. Natürlich willst du wissen, wo ich sie gefunden habe. Höre also gut zu. Oberhalb der Quelle gibt es, wie du inzwischen weißt, in den Kalkfelsen einige Höhlen. Sie waren in grauer Vorzeit einmal bewohnt. Man hat sie natürlich untersucht und auch einiges an Gerätschaften, Tongefäßen, Kämmen aus Elfenbein und dergleichen gefunden. Vor Jahren untersuchte ich einige
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