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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen
Autoren: Gerhard Mall
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beginnt. Durch das Südportal der Kirche gehen wir rechts in eine hohe, kuppelüberwölbte Seitenkapelle, wo sich etwa 15 Pilger und Pilgerinnen eingefunden haben. In verschiedenen Sprachen lesen wir Bibeltexte - vom Turmbau zu Babel, vom Pfingstereignis - teilen die Erfahrungen des ersten Tages der Pilgerreise, teilen die Erfahrungen des ganzen Wegs. Es ist eine offene und nachdenkliche Stimmung.
    Der junge, sehr sympathische Priester leitet den Gottesdienst mit viel Feingefühl.
    Höhepunkt und emotional dichtester Moment ist, als wir zum Grab des Apostels hinabsteigen und Fürbitten formulieren. Einige Pilger sind den Tränen nahe. Ich bitte für die Frau, deren Notiz ich in der Kathedrale von Le Puy aus einem Häufchen von Zetteln mit unterschiedlichen Anliegen gezogen habe. Eine ihrer Bitten war, dass sie den richtigen Begleiter für den Rest ihrer Tage finden möge. Ich spüre jetzt deutlich, dass auch in mir die Offenheit für eine gute Begleiterin am Wachsen ist. Wir beten das Vaterunser, jeder in seiner Sprache. Danach segnet uns der Priester und zeigt uns am Portal noch das umgekehrte Alpha und Omega, nämlich O - A. Der Camino ist nach Santiago zu Ende, der neue Weg beginnt. „La meta es Christo.“, erklärt er uns das neue Ziel.
    Ja, das trifft auch mein starkes Empfinden. Der eigentliche Weg beginnt soeben.
     
    Ergriffen und voller Freude über das intensive Erlebnis gehen wir in unser Quartier zurück und feiern Abschied. Verena und Dennis haben Wein und Knuspersachen besorgt. Verena bittet mich, ihr die Armbanduhr zurückzugeben, die sie mir spontan in Cacabelos nach dem Verlust meiner eigenen geliehen hatte. Dann schenkt sie mir das kleine Taizé-Kreuz, das sie zwischen Zubiri und Pamplona, also am ersten Tag unseres Weges zu dritt, bei einer Rast gefunden hatte. Sie hat es den ganzen Weg nach Santiago mitgenommen und jetzt gibt sie es mir. Ich bin gerührt. Wir erinnern uns an die Situation des Fundes und rekonstruieren dann den ganzen Weg nach unseren sich ergänzenden Erinnerungen. Alle Höhepunkte lassen wir so aus dem Herzen und dem Gedächtnis aufsteigen, jeden Tag bis zum Eintreffen in Santiago. Wir spüren, wie reich dieser Weg für uns war. Als ich die beiden so glücklich mir gegenüber sehe, sage ich: „Wenn ich durch meinen Wunsch, zusammenzubleiben, ein klein wenig dazu beigetragen habe, dass ihr euch kennen und lieben lernen konntet, dann war das das Schönste, was ich auf dem Weg getan habe.“
    Ich spüre große Dankbarkeit und Freude über das gemeinsam Erlebte und gleichzeitig Wehmut über den Abschied, der unumgehbar gekommen ist. Zum Schluss beten wir noch einmal das Pilgergebet, das uns auf dem Camino begleitet hat, diesmal für unseren Lebensweg. Wir umarmen uns zum Abschied, auch Dennis und Verena laden mich zu sich ein, so wie ich sie zu mir. Mit großer Freude und sanfter Wehmut lege ich mich schlafen. Es ist nach 24 Uhr.
     

Freitag, 24. August
    Ich erwache, als es dämmrig wird, mache mich und den Rucksack reisefertig. Ich frühstücke in Ruhe, während die Sonne aufgeht und auf dem Markt unten das Leben beginnt. Kurz bevor ich gehe, schreibe ich auf die Rückseite einer Pilgermenüwerbung noch einen kurzen Brief an Verena und Dennis und schiebe den Zettel dann durch den Türschlitz.
    „Liebe Verena, lieber Dennis, noch einen Gruß, bevor ich meinen Camino fortsetze. Ich wünsche Euch alles Gute und die gelingende Integration der Erkenntnisse des Camino in den Alltag. Wie Ihr ja wisst: Omega - Alpha. Ihr habt mit mir einen guten Freund gewonnen. Herzlichst Gerhard.“
    Dann breche ich auf, kurz vor neun.
    Angenehm führt der Weg aus der Stadt heraus, wird zum Pfad durch Eukalyptuswälder. Für kurze Zeit ist am Horizont die Silhouette der Kathedrale gegen die Sonne zu sehen. Der Weg führt auf und ab, manchmal ist er ein Pfad, manchmal ein Sträßchen. Er führt an kleinen Feldern vorbei, oft durch silbergraue Eukalyptuswälder.
    Nach zwei Stunden mache ich am Alto de Vento eine Kaffeepause und schreibe Notizen. Drei junge spanische Pilger sitzen am Nachbartisch und grüßen. Als ich am Nachmittag in Negreira ankomme und die Herberge aufsuche, begrüßen mich die drei jungen Spanier. Sie fragen mich, wo ich gestartet bin.
    Als ich „Taizé.“ sage, bekommen sie große Augen.
    „Madre de Dios!.“, entschlüpft der jungen Dame.
    Sie kennen Taizé, waren schon bei den großen Treffen, die immer am Jahresende in verschiedenen europäischen Großstädten stattfinden,
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