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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen
Autoren: Gerhard Mall
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herauskommt, für sie als Enge wirkt, sodass sie Abstand braucht.
    „Was machen wir denn jetzt?.“, fragt sie ratlos.
    Ich verstehe den Teufelskreis jetzt klarer. Je mehr Nähe ich auf diese Art suche, desto mehr Abstand bekomme ich. Doch was das Handeln betrifft, bin ich völlig orientierungslos. Mein Bedürfnis nach Nähe zu ihr ist mächtig. Gleichzeitig kämpft die Absicht, ihren Wunsch nach Abstand zu erfüllen, dagegen an. Ich suche für das Jetzt eine Lösung und formuliere aus meinem in diesem Moment ziemlich wirren Kopf eine Idee: „Dann werde ich eben versuchen, deinen Wunsch zu akzeptieren und mein Bedürfnis nach Nähe hinter meine Entscheidungen für selbstständiges Handeln zurücknehmen.“ Die Reaktion ist heftig und trotzdem gut für mich. Das sei wohl nicht der richtige Weg. „Du machst dich zu einem Opfer und ich bin die Böse. Das ist eine Rolle, die ich nicht will.“ Dann teilt sie mir mit, dass sie den Weg nach Finisterre allein gehen will. Das habe ich intuitiv schon gespürt, aber es macht mich trotzdem traurig. Ich sage ihr, dass ich den Entschluss respektieren will, auch wenn ich mir etwas anderes gewünscht habe.

     
    Auf den letzten Kilometern vor Santiago habe ich das Gefühl, wieder ganz alleine zu sein. Ich habe mit leeren Händen am Anfang gestanden, jetzt stehe ich wieder mit leeren Händen da. Als wir die Innenstadt und die Kathedrale von Santiago erreichen, scheint die Sonne.
    In mir nicht.

    Mehr und mehr wird für mich deutlich, dass der Camino an diesem letzten Tag die eigentliche Tragik meines Lebens widerspiegelt.
    Immer wieder habe ich, um Gemeinschaft, um Nähe und Liebe zu erhalten, meine Wünsche und Bedürfnisse und so mehr und mehr von mir selbst ausgeklammert und oft sogar aufgegeben, habe mich angepasst, so auch hier auf dem Weg allmählich und verstärkt in den letzten Tagen - und am Ende stand ich immer alleine da. Mir fallen einige Beispiele ein, nicht zuletzt meine Ehe. Ich bin dem Camino dankbar für diese Erkenntnis, auch wenn sie die härteste des ganzen Weges ist. Traurig, tief betroffen und sehr nachdenklich sitze ich mit den anderen in der Kathedrale. Ich hätte mir diesen Moment ganz anders gewünscht, aber der Camino hat mir an diesem letzten Tag etwas sehr, sehr Hartes, Wahres widergespiegelt.
    Im Gottesdienst ist es mir wichtig, beim Friedensgruß besonders auch Verena einzubeziehen.
    Es ist ein ergreifender Moment, als mit Orgelspiel das Botafumero geschwungen wird, dieses riesige, silberne Weihrauchfass, total überraschend für mich und für uns alle. Am Schluss des Gottesdienstes habe ich das dringende Bedürfnis, Verena für ihre Offenheit zu danken und ihr zu sagen, was für eine wichtige Erkenntnis für mich dadurch möglich geworden ist.
    Dann sehe ich direkt in der Bankreihe hinter mir Alfred aus Bamberg. Er ist ja den Küstenweg gegangen und am selben Tag wie ich angekommen.
    Ich freue mich riesig über diese überraschende Begegnung.
    Auch der Franzose, der kurz nach mir in Le Puy gestartet ist und den ich in Bercianos zum letzten Mal gesehen habe, ist da.
    Bei einem Rundgang in der Stadt kaufe ich drei gelbe Pfeile und schenke meinen beiden Weggefährten je einen.
    Die Entscheidung für ein Quartier gestaltet sich schwierig. Also holen wir erst noch unsere Compostela ab. Gerüchte hatten wissen wollen, dass man neun Stunden lang anstehen muss. Wir schaffen es in einer halben. Dann finden wir ein schönes Quartier mit weitem Blick über Teile der Stadt, erstmals seit Burgos keine Pilgerherberge.

    Im Laufe des Tages frage ich noch Dennis, wie er mein Verhalten wahrnimmt und ob ich seiner Beobachtung nach nicht eigenständig genug entscheide und ob er sich durch meinen Gemeinschaftswunsch eingeengt fühlt. Er gibt mir die Rückmeldung, dass ich mich sicher mehr der Gemeinschaft verpflichtet fühle und dass ihm aufgefallen sei, dass ich mir dadurch manchmal Freiheit nähme, dass ich mich zugunsten der Gemeinschaft entscheide. Er selbst habe diesen Gemeinschaftssinn nicht als einschränkend erlebt. Zu meinem Gefühl, dass am Ende alles abbröckele,
    was an Gemeinschaft aufgebaut wurde, meint er, das träfe für ihn nicht zu. Er hoffe doch sehr, dass die Verbindung weiter bestehe. Ich fühle mich ein wenig erleichtert, als ich das höre.
     
    Am Abend essen Verena, Dennis, Bianca und ich zusammen mit Sebastian und Michaela an einem hübschen Platz in der Stadt.
     

Mittwoch, 22. August
    Der Tag vergeht mit verschiedenen Besorgungen, mit
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