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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf!
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von vielleicht zehn Personen bewegte sich auf sie zu. Die wollen mich holen und dorthin zurückbringen, von wo ich entsprungen bin, war ihr erster und einziger Gedanke. Aber dann begann die Führerin der Gruppe, eine junge Frau Anfang Zwanzig, in dem vertrauten breiten Bostoner Tonfall zu sprechen, der ihrer eigenen Stimme merkwürdigerweise fehlte, und sie erkannte, daß sie für diese Leute ebenso belanglos war wie zuvor für die beiden Frauen, deren Gespräch sie mitangehört hatte. War sie überhaupt für jemanden von Belang?
    »Sie sehen«, sagte die junge Frau, »Beacon Hill ist ein Viertel, von dem aus die Bewohner bequem zu Fuß zur Arbeit gehen können. Es galt lange Zeit als das beste Wohnviertel der Stadt. Seine steilen Straßen sind mit Kopfstein gepflastert, und die Bauten, die sie säumen, sind teils private Stadthäuser aus Backstein, teils kleinere Mietshäuser, deren Erbauung in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann und bis zum Ende des Jahrhunderts fortgesetzt wurde.«
    Alle nahmen die privaten Stadthäuser aus Backstein und die kleinen Mietshäuser gebührend zur Kenntnis, dann fuhr die junge Frau in ihrem sorgfältig eingeübten Vortrag fort. »Eine
Anzahl der größeren und eleganteren Häuser ist in den letzten Jahren wegen der Wohnungsknappheit und der explodierenden Immobilienpreise in Eigentumswohnanlagen umgewandelt worden. Beacon Hill war früher eine Hochburg der Yankees, auch heute leben hier noch viele der alten Bostoner Familien, aber mittlerweile sind Mitbürger jeglicher Herkunft willkommen - vorausgesetzt, sie können die Hypotheken beziehungsweise die Mieten bezahlen.«
    Mildes Gelächter und eifriges Nicken quittierten ihre Worte, ehe die Gruppe Anstalten machte weiterzugehen. »Entschuldigen Sie, Madam«, sagte die Führerin, wobei sie die Augen weit öffnete und den Mund zu einem übertrieben breiten Lächeln verzog, so daß ihr Gesicht einem dieser sonnengelben Smilie-Anstecker glich. »Ich glaube, Sie gehören nicht zu unserer Gruppe?« Die Feststellung kam als Frage heraus, bei der sich die letzten Worte parallel zu den Mundwinkeln der Sprecherin aufwärts schwangen. »Wenn Sie sich für einen Stadtrundgang interessieren, sollten Sie sich an den Bostoner Verkehrsverein wenden. - Madam?«
    Die Strahlefrau war in ernster Gefahr, ihre gute Laune zu verlieren.
    »Der Verkehrsverein?« fragte sie die junge Frau, deren selbstverständlicher Gebrauch der Anrede >Madam< die Vermutung nahelegte, daß sie sie für mindestens dreißig hielt.
    »Gehen Sie die Bowdoin Street in südlicher Richtung bis zur Beacon Street - am State House vorbei, das ist das mit der goldenen Kuppel. Da ist es dann gleich. Es ist leicht zu finden.«
    Hast du eine Ahnung, dachte sie, während sie der Gruppe nachsah, die die Fahrbahn überquerte und in der nächsten Seitenstraße verschwand. Wo ich mich nicht mal selbst finden kann!
    Einen Fuß zaghaft vor den anderen setzend, als wate sie durch unbekannte und möglicherweise gefährliche Gewässer, ging sie
die Bowdoin Street hinunter. Sie achtete kaum auf die ehrwürdigen Bauten aus dem vergangenen Jahrhundert, sondern konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihr lag. Sie überquerte die Derne Street, dann Ashburton Place, alles ohne Zwischenfall, aber keine der Straßen und auch nicht das State House, das plötzlich vor ihr aufragte, weckten irgendeine Ahnung, wer sie sein könnte. Sie bog in die Beacon Street ein.
    Vor ihr dehnte sich, genau wie die Strahlefrau verheißen hatte, der Boston Common. Ohne dem Granary-Friedhof Beachtung zu schenken, auf dem, wie sie sich ohne Mühe erinnerte, Berühmtheiten so unterschiedlicher Natur wie Paul Revere und Mother Goose ihre Gräber hatten, eilte sie am Besucherzentrum vorbei zum Park und wußte instinktiv, daß sie das in der Vergangenheit viele Male getan hatte. Die Stadt Boston war ihr nicht fremd, ganz gleich, wie fremd sie selbst sich war.
    Sie merkte, wie ihr die Knie weich wurden, und dirigierte sich zu einer Bank, auf der sie sich niedersinken ließ. »Keine Panik«, wiederholte sie mehrmals laut, sprach die Worte wie ein Mantra vor sich hin, da sie wußte, daß niemand nahe genug war, sie zu hören. Dann begann sie eine lautlose Rekapitulation aller ihr bekannten - wenn auch größtenteils unwichtigen - Fakten. Es war Montag, der 18. Juni 1990. Die Temperatur, für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, lag bei 68 Grad Fahrenheit. 32 Grad Fahrenheit war der Gefrierpunkt von Wasser. Bei 100
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