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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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nickte.
    »Sie dürfen mich nicht unterschätzen, und er auch
nicht. Ich kann ihm helfen, der Sache auf den Grund zu gehen, und ich kann ihn auch beschützen. Das müssen Sie mir glauben.«
    Und das tat sie, trotz allem.
    »Kann ich jetzt die Waffe wiederhaben?«
    Sie war sich nicht sicher.
    Erneut setzte er ein Lächeln auf, und nun blitzte auch etwas von seinem berühmten Charme auf. »Sie ist nicht geladen. Los, schießen Sie auf mich.«
    Sie starrte auf die Pistole, als könnte sie auf diese Weise herausfinden, ob seine Worte der Wahrheit entsprachen. Dann zielte sie in seine ungefähre Richtung. Aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, seiner Aufforderung zu folgen. Schließlich trat Weaver auf sie zu und entwand ihr die Pistole. Er legte den Lauf an seine Schläfe und drückte ab. Und noch einmal. Zsuzsa fuhr zusammen, als es zweimal laut klickte. Erst später wurde ihr klar, was das Erschreckendste an diesem Vormittag gewesen war: Milo Weaver zuckte nicht mit der Wimper. Er wusste natürlich, dass die Waffe nicht geladen war. Trotzdem kam ihr diese Beherrschtheit irgendwie unmenschlich vor.
    Er griff nach den Schlüsseln und sperrte die Wohnungstür auf. Durchs Fenster beobachtete sie, wie er das Haus verließ und das tote Gras überquerte. Mit ausdrucksloser Miene sprach er in ein Handy, und nicht das leiseste Zögern lag in seinen harten Schultern und seinem unerbittlichen Gang. Er wirkte wie eine Maschine.

TEIL I
DER NEUNTE AUFTRAG
    SONNTAG, 10. FEBRUAR BIS MONTAG, 25. FEBRUAR 2008

1
    Er hatte das Gefühl, er müsste es nur benennen können, um es zu beherrschen. Transgressive Assoziation? Das klang einigermaßen richtig, war aber zu klinisch, um die Sache zu fassen zu kriegen. Vielleicht spielte das medizinische Etikett sowieso keine Rolle. Das Einzige, was zählte, war die Wirkung auf ihn und seine Arbeit.
    Die schlichtesten Dinge konnten es auslösen – ein Takt Musik, ein Gesicht, ein Schweizer Hündchen, das auf die Straße kackte, oder der Geruch von Auspuffgasen. Nur Kinder nie, was sogar ihm seltsam vorkam. Bloß die indirekten Bruchstücke seines früheren Lebens versetzten ihm diesen Schlag in die Magengrube, und als er in einer eiskalten Züricher Telefonzelle stand und in Brooklyn anrief, hätte er nicht einmal sagen können, was diesmal der Auslöser war. Er wusste nur, dass er Glück hatte: Niemand meldete sich. Vielleicht waren sie in irgendeinem Café beim Frühstück. Dann schaltete sich die Maschine ein: ihre beiden Stimmen, ein Durcheinander weiblicher Töne, die ihn lachend aufforderten, bitte eine Nachricht zu hinterlassen.
    Er hängte auf.
    Wie er es auch nannte, es war ein riskanter Impuls. Für sich genommen eigentlich harmlos. Was konnte ein spontaner – vielleicht zwanghafter – Anruf in einem Zuhause, das keines mehr war, an einem grauen Sonntagnachmittag
schon ausmachen? Doch als er durch die zerkratzte Scheibe auf den weißen Lieferwagen in der Bellerivestraße spähte, wurde er sich der Gefahr bewusst. In diesem Lieferwagen saßen drei Männer und wunderten sich, dass er hier hatte anhalten wollen, wo sie doch gerade auf dem Weg waren, ein Kunstmuseum auszurauben.
    Manch einer hätte wohl nicht einmal daran gedacht, sich so eine Frage zu stellen, denn wenn sich das Leben so schnell verändert, wird die Rückschau zu einer verblüffenden Abfolge moralischer Entscheidungen. Und wären diese anders ausgefallen, säße man jetzt eventuell gar nicht hier. Sondern in Brooklyn vielleicht, mit der Sonntagszeitung und den Werbebeilagen, zerstreut zuhörend, wie die eigene Frau das Feuilleton zusammenfasste und die Tochter das Vormittagsprogramm des Fernsehens kritisierte. Doch die Frage kam wieder, wie so oft in den letzten drei Monaten: Wie bin ich hier gelandet?
    Die erste Regel im Tourismus lautet, dass man sich nicht von ihm zerstören lassen darf – denn genau das kann passieren. Ohne weiteres. Die rastlose Existenz, die Notwendigkeit, den Überblick über mehrere Aufträge gleichzeitig zu behalten, das Unterdrücken von Empathie, wenn es der Job erfordert, und vor allem die unaufhaltsame Vorwärtsbewegung.
    Doch diese tückische Eigenschaft des Tourismus, die Bewegung, ist auch ein Segen. Sie lässt keine Zeit für Fragen, die sich nicht unmittelbar um das eigene Überleben drehen. Auch der Augenblick jetzt war keine Ausnahme. Und so schob er sich aus der Telefonzelle, trabte durch die beißende Kälte und kletterte auf den Beifahrersitz. Giuseppe, der picklige, magere
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