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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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die Zähne. Und das war’s. Sonst nichts. Denen war völlig egal, ob ich mir die Nacht um die Ohren schlage oder nicht. Die haben mich einfach verscheucht wie eine lästige Fliege. Und dann haben sie wieder über Marius und die Firma geredet, als wäre ich gar nicht mehr da. Oben hatte ich dann keine Lust mehr auf Warhammer. Irgendwie war ich total sauer auf meine Eltern, obwohl das ja immer so läuft. Ich wollte nach draußen. Na ja, so getan, als ob ich schlafen würde, hab ich trotzdem, um keinen Ärger zu kriegen. Und dann bin ich durchs Fenster raus in die Nacht.«
    »Was hast du draußen gemacht? Bist du direkt zum Bahnhof gegangen?«
    »Nein, erst nicht, aber irgendwie bin ich da gelandet. Da standen ein paar Leute auf dem Bahnsteig, die auf den Zug nach Essen gewartet haben. Ich bin hinter den Gleisanlagen durch die Büsche gestreift und dann ganz nah ran an den Bahnhof. Aber keiner hat mich da in der Dunkelheit gesehen. Das war wie ein Spiel. Wie nah komme ich ans Gleis heran, ohne dass mich einer sieht? Aber mich hat keiner entdeckt, auch nicht, als ich schon fast vor denen stand. Ich hab mir gedacht, wenn ich eine Steinschleuder hätte, könnte ich die Leute auf dem Bahnsteig abschießen wie leere Dosen auf der Mauer. Na ja, und dann kam plötzlich der Zug. Da bin ich zurück in die Büsche, wegen der Scheinwerfer und der hellen Fenster und so. Der Zug hält, Leute sind ausgestiegen, Leute sind eingestiegen, und auf einmal sehe ich Marius. Ich glaub, der war total besoffen, so wie der gewankt hat. Und dann legt der sich auch noch mit diesen Typen an. Die pampen herum, pöbeln sich an, und sofort ist da eine fette Schlägerei im Gange. Die anderen Leute, die noch auf dem Bahnsteig waren, haben sich in die Unterführung verpisst, weil sie nichts damit zu tun haben wollten. Hauptsache, schnell weg. Und dann ging’s auf einmal voll ab. Die haben wie wild auf Marius eingedroschen. Kurz darauf lag er am Boden, die Typen haben noch ein paar Mal zugetreten, und dann sind die abgehauen. Das ging alles total schnell. Und Marius blieb einfach liegen. Ganz alleine auf dem Bahnsteig. Ich bin aus meinem Versteck raus und auf den Bahnsteig geklettert.«
    »Wie ging es weiter?«, fragte Hambrock.
    »Marius lag da auf dem Pflaster. Der sah total übel aus. Überall Blut und so. Das eine Auge war völlig zerdetscht. Und der Unterkiefer war auch irgendwie ausgerenkt oder so. Sah schon krass aus. Aber …« Er brach ab. Offenbar wollte er an dieser Stelle doch nicht mehr so freizügig weiterreden.
    Hambrock betrachtete ihn eindringlich. »Nils. Du hast mir versprochen, dass du die Wahrheit sagst. Dass du alles ganz genau erzählen wirst.«
    »Ja. Ich mein nur … also, irgendwie sah das auch faszinierend aus, wie der da lag«, beendete er schließlich den Satz. »Ich hätte nie gedacht, dass der ach so tolle Marius überhaupt verletzt werden kann. Na klar, ich weiß ja, der ist auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber trotzdem. Um den hat sich immer alles gedreht. Der war doch das Zentrum des ganzen bescheuerten Universums. Manchmal hab ich versucht, mir vorzustellen, dass Marius auf dem Klo sitzt und kackt. Aber so richtig hat das auch nicht funktioniert. Und jetzt lag der da wie eine angefahrene Katze. Richtig mit viel Blut und so. Der war total im Arsch. Ich fand, das war kaum zu glauben, echt.«
    Er sah Hambrock offen ins Gesicht. Da waren weder Mitgefühl noch Reue zu erkennen. Nur ehrliches Erstaunen über die Tatsache, Marius wehrlos und schwach zu erleben.
    »Marius hat immer alles bekommen. Er war die wichtigste Person auf der Welt. Meine Eltern hätten mich sofort in die Wüste geschickt, wenn sie Marius damit was Gutes getan hätten. Er hat ihre ganze Aufmerksamkeit bekommen. Wir anderen waren doch völlig egal. Und jetzt lag er da am Boden. Konnte sich kaum noch bewegen. Das hat mich echt umgehauen.«
    »Was ist dann passiert?«, fragte Hambrock.
    »Er hat mich gesehen. Mit dem einen Auge, das noch gucken konnte. Dann hat er den Kopf gehoben und gesagt: Hilf mir. Ist das zu glauben? Das war wie im Film. So ist das noch nie zwischen uns gelaufen: Ich stand da und war stark, und Marius lag am Boden und war schwach. Das war ein total irres Gefühl.«
    »Und dann hast du zugetreten?«, fragte Hambrock.
    Er nickte. »Ja. Ich weiß gar nicht genau, wieso eigentlich. Das war ganz spontan. Irgendwie war das so ein geiles Gefühl. Mir war ganz schwindelig, so gut fühlte sich das an. Ich wollte das ausnutzen, dass
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