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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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abgab. Es war eine Atmosphäre wie an einem Dorfstammtisch.
    Marius saß abseits an einem Ecktischchen. Er wollte allein sein. Sich betrinken. Er wollte sich betäuben, bis nichts mehr zu spüren war von seinen Schmerzen. Doch das Gefühl des Versagens ließ sich so leicht nicht überdecken. Es war stärker.
    Alles war ruiniert. Sein ganzes Leben. Er hatte Nathalie geschlagen. Es war ihm unbegreiflich, wie das passieren konnte. Das ließ sich nicht wiedergutmachen. Niemals.
    Es war vorbei, endgültig. Nathalie würde ihm das nicht verzeihen. Er fragte sich, was ihm jetzt noch blieb. Das Unternehmen. Sein Vater. Die Familie. Eben alles das, was er hinter sich hatte lassen wollen.
    Es war eine Fata Morgana gewesen. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihm etwas vorgetäuscht, das niemals da gewesen war. Ein süßer Traum. Zwangsläufig musste er daraus erwachen. Es gab kein anderes Leben für ihn. Das hätte ihm eigentlich klar sein müssen.
    »Letzte Runde!«, brüllte der Wirt. »Was ist, Junge? Für dich auch noch einen?«
    Marius nickte. Er nahm den halbleeren Gin Tonic und kippte ihn mit einem Zug herunter. Die Männer lachten, und der Wirt reichte ihm ein neues Glas über den Tresen.
    Seine Familie. Die blieb. Trotz der Trauer, die er empfand, trotz seiner Schuld und seines Versagens hatte der Gedanke irgendwie etwas Tröstliches: Blut ist dicker als Wasser. Auch wenn alle Träume zerbrachen und das Leben an einem Tiefpunkt angelangt war. Die Familie war immer da. Sie war alles, was er hatte.
    Die Männer am Tresen leerten ihre Biergläser und brachen auf. Der Wirt begann zu putzen. Marius nahm seine Jacke und zahlte ebenfalls.
    »Gute Nacht, Junge«, sagte der Wirt und schenkte ihm ein Lächeln, bei dem er eine Reihe gelber Stummelzähne zeigte. »Und was immer es auch ist – das wird schon wieder.«
    Nachdem Marius die Kneipe verlassen hatte, machte er sich auf den Weg zum Zug. Im Kiosk kaufte er sich eine Bierflasche für unterwegs, dann stieg er die Stufen zum Gleis hinauf.
    Er versuchte, die vielen negativen Gefühle zur Seite zu schieben. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. Vergebung. Da war immer noch seine Familie. Daran wollte er denken. Es war alles, was er noch hatte.
    Er lehnte sich an die Geländerstreben und wartete. Der Zug würde gleich einfahren. Und dann ginge es für ihn nach Hause.

31
    Es war still in dem Raum, nur das Surren des Computers war zu hören. Hambrock saß Nils gegenüber. Der Junge wirkte irgendwie verloren. Ein Kind, das sich nach Geborgenheit sehnte, so wie Mechtild Bruns es angedeutet hatte. Doch wahrscheinlich war das nur Einbildung. Wie bei den drei Gymnasiasten, die Marius niedergeschlagen hatten. Auch die wirkten bei den Vernehmungen, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Die Wirklichkeit sah leider völlig anders aus.
    »Warum, Nils?«, fragte er. »Warum hast du das getan?«
    Der Junge sah nicht aus, als hätte er eine Antwort auf diese Frage. Er zog die Stirn in tiefe Falten.
    »Ich … ich hab das nicht geplant.«
    »Also gut. Fang einfach ganz vorne an. Was ist in dieser Nacht passiert?«
    Nils holte Luft. »Sie meinen am Bahnhof?«
    »Das auch. Aber wie ging es los? Weshalb bist du überhaupt aus dem Fenster geklettert? Was hattest du draußen vor?«
    »Ich hatte eigentlich gar nichts vor. Ich wollte nur ein bisschen abhauen. Mein eigenes Ding machen. Das habe ich ganz oft gemacht: Meinen Eltern gesagt, ich geh ins Bett, und dann bin ich durchs Fenster raus. Ohne Plan, einfach so. Manchmal hab ich bei Marius oder bei Nicole eine Zigarette geklaut, und die hab ich dann im Wald geraucht. Oder ich hab mir Steine geschnappt und die Scheiben in der leer stehenden Fabrik eingeschlagen. Manchmal bin ich auch nach Gertenbeck rein und hab mich in Gärten geschlichen, um die Leute in ihren Wohnzimmern zu beobachten. Ich fand das cool, alleine in der Gegend unterwegs zu sein.«
    »Und deshalb warst du auch in dieser Nacht draußen? Um alleine unterwegs zu sein?«
    »Ja. Erst hab ich ewig am Computer gesessen und Warhammer gespielt. Normalerweise kommt dann irgendwann einer und schickt mich ins Bett. Aber nicht an diesem Abend. Also bin ich runter ins Wohnzimmer, und da saßen Mama und Papa und haben sich unterhalten. Es ging mal wieder um Marius. Und die blöde Firma. Wie immer. Als die mich gesehen haben, meinte Papa nur: Hat dich keiner ins Bett geschickt? Der war nicht mal sauer. Und Mama meinte: Jetzt steh hier nicht rum und fall uns auf die Nerven, putz dir
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