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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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hatte. Es war eine Mulattin mit einer auffälligen Afrofrisur. Hambrock kannte sie bereits. Nathalie. Der Nachname war ihm entfallen, aber sie war die feste Freundin von Marius Baar gewesen. Sie hatten den Tag miteinander verbracht, bevor er seine schicksalhafte, letzte Fahrt nach Gertenbeck angetreten war.
    Sie hockte mit hängenden Schultern auf der Bank, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Hambrock fühlte sich schuldig. Er zog eine Packung mit Papiertaschentüchern hervor und ging auf die Bank zu. Er wollte für seine Wortwahl um Verzeihung bitten. Vielleicht brauchte sie außerdem jemanden zum Reden. Möglich, dass es ihm gelang, ein wenig Trost zu spenden.
    In diesem Moment tauchte ein junger Mann in Kapuzenpulli und mit einer modischen Hornbrille auf. Er trat auf die Bank zu und legte tröstend die Hand auf Nathalies Schulter. Hambrock hatte auch ihn schon einmal gesehen, konnte sich aber weder an den Namen erinnern noch daran, in welcher Beziehung er zu dem Opfer gestanden hatte.
    Der junge Mann bemerkte Hambrock. Er beugte sich zu Nathalie und flüsterte ihr eindringlich etwas zu. Sie sah ebenfalls verstohlen herüber, nickte dann, stand auf, hakte sich bei ihm unter und verließ gemeinsam mit ihm das Gerichtsgebäude. Beinahe wirkte es, als wären sie auf der Flucht vor ihm, um ja nicht mit der Polizei sprechen zu müssen.
    Hambrock sah den beiden nachdenklich hinterher. Ihr Verhalten war mehr als seltsam. Er versuchte sich zu erinnern, was diese Nathalie für eine Rolle bei der Ermittlung gespielt hatte. Vielleicht würde ihm dann auch wieder einfallen, wer der Mann mit der Hornbrille war. Ob er noch mal einen Blick in die Akten werfen sollte?
    Doch das war natürlich Unsinn. Der Fall war abgeschlossen. Er hatte jetzt ein paar Tage frei. Wenn das Gericht ihn entlassen hatte, würde er nach Hause fahren und den Küchenschrank reparieren. Also steckte er seine Taschentücher wieder weg und steuerte die Kantine an, um sich einen Becher Kaffee zu besorgen.

3
    Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Sonne stand tief am Himmel und blinzelte zwischen Dachfirsten und Schornsteinen hindurch. Ein weiterer warmer Sommerabend über den Dächern der Stadt. Marius fühlte sich immer noch verkatert. Die Party in der vergangenen Nacht war wild gewesen, und wie er ins Bett gekommen war, wusste er nicht mehr. Heute Morgen war er bei einem Kumpel in dessen Studentenwohnung aufgewacht. Sie lag in einem Altbau im Kreuzviertel unweit der Promenade, genau das Passende für einen Betriebswirtschaftler kurz vor dem Examen. Marius hätte gern mit ihm getauscht. Aber sein Vater fand, Marius’ Platz sei zu Hause in Gertenbeck und nicht in Münster. Platz genug gab es ja in der Familienvilla. Deshalb musste er pendeln. Das Studium sei nicht dazu da, sich zu amüsieren, meinte sein Vater. Es solle ihn vielmehr vorbereiten, eines Tages die Firma zu übernehmen. Alles andere sei Zeitverschwendung. Sein Vater eben.
    Der Signalton der Lok pfiff einsam durch den Abendhimmel. Häuserfronten zogen vorbei, alles war in warmes orangefarbenes Licht getaucht. Ein Gothic-Typ mit schwarzer Kutte schlurfte an ihm vorbei und setzte sich in eine verlassene Sitzgruppe. Er senkte den Kopf und ließ sich die Haare ins Gesicht fallen, als wollte er sich damit von seiner Umgebung abschirmen. Aus seinen Ohrstöpseln drang blechern Musik. Doch er blieb nicht lange allein. Eine Gruppe etwa gleichaltriger Jugendlicher baute sich vor ihm auf. Vier Jungs mit Markenklamotten und gestylten Haaren. Der Gothic-Typ sah ängstlich auf. Offenbar kannte er die vier. Einer von ihnen bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, er solle sich verziehen.
    »Das ist mein Platz! Verpiss dich!«
    Er stieß ihn unsanft zur Seite. Die drei anderen kicherten. Sie machten sich auf den freien Plätzen breit und rückten dem Gothic-Typen bedrohlich auf die Pelle. Der duckte sich, sah zu Boden.
    »Kannst du nicht hören? Du sollst dich verpissen, du Arschloch!«
    Die anderen Fahrgäste sahen angestrengt aus dem Fenster. Keiner mischte sich ein. Der Junge in der schwarzen Kutte bekam einen weiteren Stoß, dann schlich er schließlich davon. Die anderen lachten triumphierend. »Was stinkt das hier, wo der gesessen hat!«, rief einer.
    Marius sah wieder aus dem Fenster. Er dachte an die Party der vergangenen Nacht. An Nathalie. Sein Kumpel hatte ihm gesagt: »Vergiss es, Marius. Es gibt da eine Sorte Frauen, bei der landest du nicht.« Ungesagt schwang mit: Frauen, die Klasse haben.
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