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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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jämmerlich es um meine Verhältnisse bestellt sein mochte. Ein Gefangener der Straße zu sein, wie ich es lange Zeit war, bedeutete ständige Erholung. Ich brauchte keine Adresse, solange mir die Straßen zum Durchwandern offenstanden. Es gibt in Paris kaum eine Straße, die ich nicht kennenlernte. In jeder einzelnen könnte ich eine Tafel aufstellen, die mit goldenen Lettern an irgendein neues, reiches Erlebnis, irgendeine tiefe Erkenntnis, irgendeinen Augenblick der Erleuchtung erinnert. All die Namenlosen, denen ich in Augenblicken der Angst oder Verzweiflung begegnete, bleiben für immer in meinem Gedächtnis eingegraben. Ich identifiziere sie mit den Straßen, in denen ich sie traf. Ihre Welt war, wie die meine, eine Welt ohne Pässe, ohne Visa, ohne Visitenkarten. Eine gemeinsame Not brachte uns zusammen. Nur die Verzweifelten können diese Art der Gemeinschaft verstehen und richtig einschätzen. Und immer war es der Zufall, der mich auf diesen uralten Straßen rettete. Der Gang auf die Straße war wie das Betreten eines Spielsaals: immer alles oder nichts. Heute sind Millionen Menschen - einst ehrbar, einst gutsituiert, einst in Sicherheit, wie sie meinten - gezwungen, die gleiche Haltung einzunehmen. «Verzweifle nur hinreichend», so pflegte ich zu sagen, «und alles wird gut.» Niemand verzweifelt aus freien Stücken. Niemand glaubt, solange er es nicht am eigenen Leibe erfahren hat, wie heilsam dieser Zustand sein kann. Die Revolutionäre machen sich diese Sicht der Dinge nicht zu eigen. Sie erwarten von Männern und Frauen, daß sie die rechten Grundsätze vertreten, ohne zuvor durchs Feuer gegangen zu sein. Sie wollen Helden und Heilige, ohne ihnen Gelegenheit zum Leiden zu geben, ohne sie in die Feuerprobe zu schicken. Sie wollen den Übergang vom schlechten Zustand zum guten ohne das dépouillement , das allein sie dahin bringt, ihre alten Gewohnheiten abzulegen, ihre alten verbrauchten Ansichten. Ein Mensch, der nie bis auf die Knochen entblößt war, wird die sogenannten guten Verhältnisse nie zu schätzen wissen. Ein Mensch, der nie gezwungen war, anderen zu helfen (um sich selbst zu retten), kann nie zur revolutionären Kraft in der Gesellschaft werden. Er ist nicht eingeschmolzen worden, er kann nie eingeschmolzen werden in die neue Ordnung; er ist ihr nur angeklebt. Er wird sich lösen, sobald es heiß wird.
    Man mag sich fragen - da ich doch früher schon durch das Fegefeuer gegangen war (in Amerika) -, warum ich diesen Weg noch einmal gehen mußte. Ich will es erklären. Als ich in Amerika unterging, geschah es nur, um auf falschen Grund zu stoßen. Der wahre Grund, chez nous , ist Treibsand, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ich konnte nie Hoffnung schöpfen. Es gab kein Morgen, nur die endlose Aussicht auf lähmendes Einerlei. Ich konnte nie dem Gefühl entfliehen, mich in einem Vakuum zu befinden, in einer Zwangsjacke gefesselt zu sein. Mich zu befreien, hieß in eine Welt zurückzukehren, deren Luft ich nicht atmen konnte. Ich war der Stier in der Arena, und das Ende war sicherer Tod. Ein Tod überdies ohne Hoffnung auf Auferstehung. Denn in Amerika sorgen wir nicht nur dafür, daß der Leib tot ist, wir sorgen auch für die Abtötung der Seele.
    In Frankreich fand ich nicht nur die Dinge, die ich genannt habe, sondern auch neuen Lebenswillen. Ich fand auch einen Vater, ja sogar mehrere Väter. Der erste war mein alter Französischlehrer aus dem Midi, der gute, alte Lantelme, der jetzt wohl tot ist. Er verbrachte den Sommer immer auf der Île d'Oléron. Meine Besuche schienen ihm Freude zu machen. Unsere Gespräche handelten immer vom alten Frankreich, besonders von der Provence. Er gab mir die Illusion, daß ich selbst einmal dazugehört habe und daß ich dem Geist des Midi näherstände als meinen eigenen Landsleuten oder den Barbaren von Paris. Zwischen uns gab es keine Barrieren, die wir zuerst hätten niederreißen müssen. Wir verstanden und bejahten uns von Anfang an - trotz meines grauenhaften Französisch. Durch sein Verdienst wurde mein Sinn für die reife Weisheit der Franzosen geschärft, für ihre angestammte Höflichkeit, ihre Duldsamkeit, ihr Unterscheidungsvermögen, ihre wache Fähigkeit, das Wesentliche und Bedeutsame zu würdigen. Durch ihn wurde ich einer neuen Liebe gewahr: der Liebe zu den unscheinbaren Dingen. Alles, womit er sich umgab, wurde zärtlich geliebt. Ich, der ich mich während meines ganzen Lebens so leicht von allem getrennt hatte, begann nun die
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